Die frühe
Moderne der
Liebe
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Bewertung:
"Etwas fehlt, wenn du nicht dabei bist." Am Ende verliert Eugen Esslinger alles. Bis auf diesen Satz seiner Frau, die ihn nie liebte. Der Sohn eines jüdischen Miederwarenfabrikanten irrt erfolglos durchs Leben. Ideen kommen und gehen. Pläne und Projekte ergreifen von ihm Besitz, um spurlos wieder zu verschwinden. Eines Tages begegnet er, der homosexuelle Mittvierziger, der fünfzehn Jahre jüngeren Mila und heiratet sie. Schon bald kommen Kinder, insgesamt drei an der Zahl. Ihr leiblicher Vater jedoch ist nicht der introvertierte Eugen, sondern der Indologe und Lebenskünstler Heinrich Zimmer.
Esslinger ist der unwahrscheinlichste Romanheld, den man sich denken kann. Einer, dem nichts gelingen mag. Kein einnehmender Charakter und kaum mit Talenten gesegnet. Frei von Geheimnissen. Doch im Beziehungsgeflecht des Romans kommt ihm, dem Unscheinbaren und vergeblich Liebenden, eine entscheidende Rolle zu: Er ist der unsichtbare Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte zweier Frauen und zweier Männer, die jahrzehntelang miteinander verbunden sind.
Mila liebt Heinrich, nicht Eugen. Der aber liebt, auf unkörperliche Weise, Mila. Heinrich indessen heiratet Christiane von Hofmannsthal, die Tochter des Dichters. Eine lukrative Ehe. Auch mit Christiane hat er drei Kinder. Doch Mila bleibt seine große Liebe. Heinrich Zimmer schafft im Deutschland der Weimarer Republik mühelos den Spagat zwischen ehelicher Institution und persönlicher Vorliebe. Sowohl Eugen als auch Christiane wissen von dieser Liaison und dulden sie ohne viel Aufhebens.
Katharina Geiser, so ist dem Nachwort zu entnehmen, stieß dank einer Zufallsbekanntschaft auf diese historische Geschichte: Heinrich Zimmer und Mila Esslinger schrieben sich über zwanzig Jahre lang 1700 Briefe. Die Autorin sichtete die umfangreiche Korrespondenz und andere historische Dokumente, um daraus den Roman Vierfleck oder Das Glück zu entwickeln.
In diesem Buch finden sich Miniaturen von erlesener Imaginationskraft und sprachlicher Finesse. Katharina Geiser besitzt die Gabe, einprägsame Atmosphären pointiert und wie im Vorbeigehen entstehen zu lassen. Dabei perfektioniert sie an manchen Stellen nahezu die Kunst des perspektivischen Erzählens: "Blätterschatten sprenkeln Eugen. Mehlgesichtig sitzt er auf der Ruhebank. Er hustet und ist müde, müde vor allem. Mit der Handkante wischt er die Birkensamen auf der Bank zu einem winzigen Häufchen zusammen. Überaus langsam tut er das. Einige Samen bröselt er in die andere Hand. Winzige geflügelte Gebilde sind es. Als Eugen erneut husten muss, zerstäuben sie, fliegen davon."
In wenigen Sätzen entwirft die Autorin das Bild einer Situation, bisweilen auch einer Epoche. Die Erzählsegmente, mit Jahreszahlen versehen, springen vor und zurück in der Zeit und verleihen dem Roman seinen eigenwilligen Erzählrhythmus. Und noch etwas findet sich in diesem erstaunlichen Buch: Eine unzeitgemäße symbolistische Poetologie, die von der Autorin als "Selbstbetrachtung der Dinge" bezeichnet wird. Weit davon entfernt, dem Dokumentarischen auch nur im Ansatz zu erliegen, gelingt Katharina Geiser überdies ein poetisches Stimmungsgemälde der frühen Moderne mit ihren radikalen Umbrüchen und Widersprüchen. Ein Roman, dessen Stärke vor allem im Unscheinbaren liegt.
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Jo Balle - 9. Juni 2015 ID 8695
Katharina Geiser | Vierfleck oder Das Glück
264 S., geb.
€ 22,00 / sFr 30,80
Verlag Jung und Jung, 2015
ISBN 978-3-99027-065-3
Verlagsinfos unter http://jungundjung.at/content.php?id=2&b_id=216
Post an Dr. Johannes Balle
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