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Buchkritik

Eine Kirche

voller

Narren



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„Die Unterdrückung der Homosexuellen hält im Westen bis heute an und wird in erster Linie von der katholischen Kirche am Leben erhalten, einer treuen, stummen Verbündeten der totalitären 'Gottesstaaten'. Man kann das bei Abstimmungen der UNO feststellen, und auch die heimlichen Allianzen mit jenen islamischen Staaten, in denen Schwule umgebracht werden, geben es zu erkennen.“ (Krzysztof Charamsa, Der erste Stein, S. 204)

*

Der polnische Theologe Krzysztof Charamsa war mehr als 18 Jahre Priester, bevor er sich Oktober 2015 als homosexuell outete. Damals war er als Assistenzsekretär der Internationalen Theologischen Kommission und als Dozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana und am Päpstlichen Athenäum in Rom beschäftigt. Außerdem gehörte er mehr als zwölf Jahre der Kongregation für die Glaubenslehre, dem ehemaligen Sant‘ Uffizio und der vormaligen Inquisitionsbehörde im Vatikan an. Der römisch-katholische Priester wurde von allen Ämtern suspendiert, weil er seine Beziehung zu seinem Lebensgefährten nicht mehr geheimhalten wollte. In seinem 2017 aus dem Italienischen übersetztem Buch Der erste Stein klagt er die katholische Kirche als heuchlerisch an, indem er die „homosexuellen Beziehungen zwischen uns Priestern“ offen thematisiert: „Auf der Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen gehe ich davon aus, dass ungefähr die Hälfte aller katholischen Geistlichen schwul ist. 50 Prozent, um es noch einmal deutlich zu sagen.“ (S. 102)

Das kämpferische, sehr persönliche Buch möchte darauf hinwirken, dass LGBTIQ-Angehörige nicht länger durch ihre Diskriminierung von der katholischen Kirche ausgeschlossen werden. Neben einem abschließenden Befreiungsmanifest mit konkreten Forderungen, bietet der heute 45-jährige Autor zahlreiche bezeichnende Einblicke in exklusive Kreise der katholischen Kirche. Der erste Stein gliedert sich in drei Teile, in denen sich der Autor seiner eigenen Biographie und seinen Erfahrungen als Geistlicher in einigen exklusiven Einrichtungen widmet.

Charamsa wuchs ohne Vater und mit einer sehr religiösen Mutter und zwei jüngeren Geschwistern auf. Er engagierte sich früh als Messdiener und ging regelmäßig zur Beichte. Im Rückblick erkennt der Autor, dass damals schon für die Priester im Beichtstuhl seine Sexualität eine große Rolle spielte: „Das Einzige, was zählte, war, dass ich mich selbst befriedigte. Man wollte von mir wissen, wann und wie oft ich es tat und auf welche Weise.“ (S. 96) Charamsa betont, dass er selbst später als Beichtvater mit den Beichtenden bewusst sexuelle Themen gemieden habe. Ihm zufolge seien viele katholische Geistliche nahezu besessen von Sexualität, insbesondere weil sie selbst so enthaltsam leben müssten: „Der Index der verbotenen Bücher ist für Katholiken immer ein despotisches und wirksames Mittel zur (Selbst-)Kontrolle gewesen. Aus ihm geht ganz eindeutig hervor, dass alles, was die Wörter 'gender', 'Sex' oder 'homosexuell' enthält, nicht gelesen werden darf – und damit basta!“ (S. 117) Bildgewaltig wettert Charamsa gegen das „Gift“ (S. 100), den „Dornröschenschlaf“ (S. 245), die „Heterodiktatur“ (S. 215) oder die „hypokritische Ausdrucksweise“ (S. 312) der katholischen Kirche insbesondere beim Thema der menschlichen Sexualität: „Was für einen Schaden richten Tausende von bornierten, stumpfsinnigen Priestern an, die überall auf der Welt die Beichte abnehmen!“ (S. 100)

Krzysztof Charamsa ist bis heute sehr gottesgläubig und lebt seinen Glauben auch weiterhin aus. Er wird jedoch nicht müde zu betonen, dass die Diskriminierung sexueller Minderheiten nicht der Willen Gottes ist und die katholische Kirche dies falsch übersetze. Er bezieht immer wieder auch die jahrhundertealte Kirchengeschichte und Menschheitsentwicklung in seine Überlegungen mit ein:


„Meine Kirche ist sich bis heute nicht bewusst, dass ihre Rückwärtsgewandtheit und Negation der Realität viele, die echten und wahren Glaubens sind, ohne Anlass zerstören und 'terrorisieren' Es handelt sich um die Art von Gewalttätigkeit, die gleiche Form von Diskriminierung, wie man sie gegen die Juden einsetzte, denen man den Tod Christi anlastete, gegen Frauen, denen sogar das Recht zu wählen verweigert wurde, gegen Sklaven, gegen Angehörige anderer christlicher Bekenntnisse und Personen von anderer Rassenzugehörigkeit, denen das Recht zu heiraten vorenthalten wurde, weil das dem Willen Gottes angeblich zuwiderliefe.“ (S. 87)


Charamsa lockert sein Werk immer wieder durch Bibelzitate auf, in denen etwa die zärtliche Beziehung zwischen zwei Männern eine Rolle spielt, wie beispielsweise Lukas 7, 1-10: „Ein Hauptmann aber hatte einen Knecht, der ihm lieb und wert war“ oder auch Matthäus 8, 5-13 und der Freundschaftsbund zwischen David und Jonathan im ersten und zweiten Buch Samuel. Wenn er selbst über sein eigenes Coming Out schreibt, wird es sprachlich leider arg blumig, etwa wenn es heißt, dass sich seine Mutter als „echte Mutter“ (S. 252) erwiesen hätte, oder er gar der Serie Queer as Folk die Wirkung einer Psychotherapie zuschreibt (S. 223). Im nächsten Moment überrascht der Autor jedoch, indem er ein Bibelzitat aus Matthäus 21, 42 einbaut und zugleich das Bild von Platons Höhlengleichnis heranzieht, um sein Coming Out besser zu veranschaulichen.

Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass sich die leidenschaftlichen Appelle für eine diskriminierungsfreie Erneuerung der katholischen Kirche wiederholen. Neben arg schwärmerisch-theatralischen und emotionalen Passagen erschweren hier auch Tippfehler (u.a. S. 42, S. 88, S. 96) der Übersetzung aus dem Italienischen von Michael Jacobs den Lesefluss. Spannend wird das Buch jedoch besonders dann, wenn der Autor aus erster Hand die alltäglich gelebten Machtstrukturen und Strategien in der Zentralbehörde der römisch-katholischen Kirche beschreibt:


„Um auf Dauer der Inquisitionsbehörde anzugehören, musste man aber noch etwas anderes mitbringen als Engagement und Wissen. Man musste zum Beispiel ein »männliches« Vergnügen daran empfinden, andere aus dem Weg zu räumen, sie zu vernichten. Nie aber durfte man dabei einem Gegner etwas direkt ins Gesicht sagen. Man musste immer nur den Mächtigen etwas ins Ohr flüstern und dies hinter dem Rücken des davon Betroffenen.“ (S. 123)


Charamsa nennt die Namen zahlreicher Theologen und Theologinnen, Geistlicher und Laien (S. 238), die sich mit dem Thema Homosexualität beschäftigten und vom Sant‘ Uffizio zum Verstummen gebracht wurden, indem ihnen etwa untersagt wurde zu lehren.

Krzysztof Charamsa lässt in Der erste Stein durchblicken, dass viele Männer in hohen Kirchenämtern den 2013 ins Amt gewählten Papst Franziskus fürchten, der sich offen zu einer Religion der Brüderlichkeit, der Empathie und des Mitleids bekannte. Gerade an ihn wendet sich Charamsa im Schlussplädoyer seines Werkes in einem Brief und einem daran anschließenden Befreiungsmanifest. Er fordert hier unter anderem die Beendigung der Homophobie und der Diskriminierung von Homosexuellen, den uneingeschränkten Respekt gegenüber homosexuellen Gläubigen und eine Revision der Interpretation biblischer Passagen zum Phänomen Homosexualität durch die Kirche. Es bleibt zu hoffen, dass Charamasas mutigem Buch eine große Wirkung zuteilwerde und sich die veralteten, diskriminierenden Positionen der katholischen Kirche tatsächlich wandeln.
Ansgar Skoda - 28. August 2017
ID 10220
Krzysztof Charamsa | Der erste Stein
Geb. m. Schutzumschlag
EUR 19,99 [D] EUR 20,60 [A] | CHF 26,90
C. Bertelsmann, 2017
ISBN: 978-3-570-10327-2


Weitere Infos siehe auch: https://www.randomhouse.de/


Post an Ansgar Skoda

skoda-webservice.de



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