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Mythen des

Materials



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Jeder Gegenstand hat eine Geschichte. Je älter er ist, desto länger und verworrener kann sie sein. Er entstand oder wurde hergestellt, wechselte die Gestalt, die Verwendung und schließlich den Nutzer. Man könnte über diverse Stoffe – ihre Entstehung, Veränderung und Kombination – ausführliche Monografien verfassen. Ein Stein oder ein Stück Holz birgt einen wahren Mikrokosmos an Erfahrungen und Zeitgeschichte. Sie sind Verweise zu unseren Ursprüngen und verbinden uns mit den Jahrtausenden oder manchmal Jahrmillionen zuvor. Ihre Übertragung vom Teil eines Organismus hin zum Teil einer technischen Konstruktion bewahrte ein Stück weit ihre frühere Existenz – einerseits in der sichtbaren Struktur, die das Design des neu geschaffenen mitprägt, andererseits in der Fortführung ihrer Stofflichkeit als Teil eines größeren Ganzen.

Um es mit Roland Barthes, dem großen Wegbereiter des Strukturalismus, zu sagen: Jeder Gegenstand der Welt kann von einer geschlossenen, stummen Existenz zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft offenen Zustand übergehen. Und je länger und vielseitiger er genutzt wird, desto mehr Geschichten, also Mythen, entstehen um ihn. In seinem Werk Mythen des Alltags stellte Bartes fest, wie Menschen Dinge zwangsläufig und oft kurios mit Mythen belegen, die ihre Bedeutung von einfachen Werkzeugen zu rituellen Gegenständen werden lassen. Das Hergestellte ist nicht nur die Summe seiner Teile, sondern ihn umgibt etwas Magisches, ähnlich dem Warenfetisch, der uns dazu veranlasst bestimmte Dinge anderen vorzuziehen. In den einzelnen Bestandteilen jedoch wohnt der wahre Wert der Gegenstände. Sie sind, nachdem der Gegenstand an sich ausgedient hat – aus der Mode gekommen oder kaputt ist – weiterhin verwendbar und damit sowohl Zutaten für Materielles als auch für Symbole und Mythen, mit denen wir sie belegen:

„Für den Bau von Häusern und Scheunen wurden teils hundertjährige Bäume gefällt, dieses Material sollte man wiederverwerten. Mithilfe von Altholz können wir neue Gebäude errichten, die sechsmal so lange halten wie die modernen giftstoffhaltigen.“

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Im großformatigen Buch Upcycled Homes. Einzigartig, innovativ & nachhaltig wohnen der amerikanischen Designerin und Lifestyle-Journalistin Antonia Edwards werden unterschiedliche Bauten gezeigt, die entweder zum Großteil aus wiederverwerteten Materialien bestehen oder deren hauptsächliche Bausubstanz aus einem bereits existierenden Gebäude besteht. Ihre Reise führte die Upcycling-Botschafterin um die ganze Welt auf der Suche nach einzigartigen Projekten. Dabei reicht die Auswahl von einer futuristischen Scheune über eine moderne Wohnung mit allem Komfort und viel Glas, die mitten in eine Schloss-Ruine hineingebaut wurde, bis zur Entkernung und Renovierung einer riesigen Fabrik, die aus mehreren miteinander verbundenen Zylindern besteht. Die klare Zielsetzung zeigt sich in der Auswahl der Gebäude: Die beauftragten Architekten und Handwerker haben es sich zum Ziel gesetzt, den Stil und somit die ureigene Stimmung der früheren Gebäude zu erhalten. Trotz der futuristischen Architektur ist das in den ausgewählten Bauten durchaus gelungen.

Zum Beispiel beim Neubau eines Wohnhauses in der Ruine eines Kalksteinhauses aus dem 17. Jahrhundert. Da der historische Bau auf dem sandigen Boden einer schottischen Insel errichtet worden war, bekam er mit der Zeit Risse und stand seit Mitte des 19. Jahrhunderts leer. In sechs Monaten erschufen die neuen Besitzer darin ein bezugsfertiges Wohnhaus, dass die alten Mauern nutzt und dennoch den Charme der Ruine erhält. Für den Neubau wurden ausschließlich Materialien aus der Region verwendet, die mit kleinen Schiffen vom Festland herübergeschafft wurden.
Noch organischer präsentiert sich ein Baumhaus-Komplex im Stadtwald von Atlanta, Georgia. Die traumhafte Unterkunft, die den 1. Platz im Airbnb-Ranking einnimmt, schwebt wie schwerelos zwischen den Bäumen, in deren Erscheinungsbild sie sich nahtlos einfügt. Ohne Pflanzen am Boden zu beschädigen wurden die Gebäudeteile aus 100 Prozent Altholz nach der Maßgabe erbaut, dass sie mindestens so lange genutzt werden sollen, wie ihr Holz zum Wachsen brauchte. Das sind im Fall der benachbarten Kiefer immerhin 150 Jahre. Für den Bau von Häusern und Scheunen wurden hier früher teils hundertjährige Bäume gefällt. Der Erbauer der Unterkunft möchte dieses Material wiederverwerten. Denn mithilfe von Altholz könnten neue Gebäude errichtet werden, die sechsmal so lange hielten wie die modernen giftstoffhaltigen.

„Im Gegensatz zu Gebäuden aus Beton und Stahl geht von Häusern aus organischen Materialien eine ganz eigene Energie aus. Die Bewohner schwärmen davon, dass sie tiefer schlafen, angenehmer träumen und sich insgesamt besser fühlen.“

Damit Dinge eine Bedeutung bekommen, bedarf es laut Barthes der Gesellschaft. Der Mythos als Botschaft kann über unterschiedlichste Medien übermittelt werden und wachsen. Das ist auch der Wunsch von Multiplikatoren der Wiederverwertung. Sie wollen dazu anregen, in größeren Dimensionen zu denken und Upcycling aus seinem Schattendasein herausholen. In Luling, Texas ist dazu ein ganzes Dorf mit Kleinsthäusern aus 95 Prozent Recycling-Materialien auf einem Areal von 17,5 Hektar entstanden: giftfrei, Ressourcen schonend, puristisch. Die einzigen Baukosten waren für Handwerker und Bauarbeiter. Der Begründer des Projekts Brad Kittel meint, Häuser zu 95 Prozent aus Altmaterialien zu bauen, sollte ein weltweiter Anspruch sein. Denn im Gegensatz zu Gebäuden aus Rigipsplatten, Beton und Stahl gehe von Häusern aus organischen Materialien eine ganz eigene Energie aus. Die Bewohner schwärmten davon, dass sie tiefer schliefen, angenehmer träumten und sich insgesamt besser fühlten. Und nachhaltiges Bauen ermögliche ein einfacheres, bescheideneres Leben. Seine Tiny Texas Houses sind wahre Kunstwerke, die aus hochwertigen Teilen alter Häuser und Möbel aus edlen Hölzern für eine lange Nutzung gezimmert sind. Sie sind klein, gemütlich und allesamt Einzelstücke. Ob Waschbecken, Fensterrahmen oder Balkonbrüstung – er kennt die Geschichte jedes einzelnen Elements. So verkauft er nicht nur handgemachte Unikat-Häuser, sondern auch die Mythen, aus denen sie bestehen.

In alten Gebäuden ist gerade der rieselnde Sand aus Mauerlöchern und der Dreck unter den Schuhen, der sich an Treppenstufen abgerieben hat, die Essenz des Besonderen und nicht der cleane Eindruck eines Möbelhaus-Katalogs, den die Fotos bei Edwards leider teilweise verströmen. Die Vorliebe für von Designern und Architekten perfektionistisch geplante und umgesetzte Projekte verzerrt daher ein wenig den Blick für den Ursprung des Upcyclings: Es waren arme Leute, die aus der Not heraus erfinderisch wurden und auf eigene Faust ohne Architekturbüro oder behördliche Genehmigung Neues schufen. Bei ihnen stand der Nutzwert im Vordergrund. Neben diesem ist es heute vor allem die Nachhaltigkeit. Materialien werden so wenig wie möglich bearbeitet und sollen möglichst lange halten. Den Persönlichkeiten hinter den Gebäuden im Buch ist dieser Aspekt besonders wichtig, und er weist den Weg in die Zukunft des Bauens. Früher oder später wird uns die Müllproblematik über den Kopf wachsen. Deshalb brauchen wir Trendsetter, die Wiederverwertung zum Industriestandard machen. Und das zeigen die von Edwards vorgestellten Beispiele sehr gelungen. Wiederverwertung und Langzeitnutzung hochwertiger Materialien muss nicht nach selbstgebastelt aussehen, und das Geschaffene kann durchaus langlebig sein – gerade wegen der verwendeten Materialien und der bestehenden Bausubstanz. So können die Mythen von gestern auch physisch das Fundament von morgen bilden.
August Werner - 19. Februar 2018
ID 10533
Weitere Infos siehe auch: https://www.randomhouse.de/Buch/Upcycled-Homes/Antonia-Edwards/DVA-Bildband/e514676.rhd


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