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Bildband


„Die Pandemie hinterlässt Spuren“



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„22. März 2020. Der Schock sitzt tief. Das Leben steht still. Es ist, als hätte die Welt aufgehört zu atmen. Nichts ist zu hören. Alles hat sich entleert. Die Straßen, der Himmel, der Park, der Fluss. Alles leer. Leer die Kneipen, die Geschäfte, die Banken, die Büros, die Kirchen, die Bahnhöfe, die Flughäfen, die Hotels, die Sportanlagen, die Kinos, die Theater und Konzertsäle, die Schulen und die Kitas... Alles leer, verriegelt und verschlossen. Und dann die Stille. Beängstigend. So ungewohnt, so absurd, so unfassbar. Unfassbar und unbekannt ist auch das Virus... Das öffentliche Leben hat aufgehört zu atmen. Ich schaue aus dem Fenster und spüre keinen Pulsschlag mehr. Der Pulsschlag der Stadt, das pulsierende Leben in den Straßen - vorbei, von einem Tag auf den anderen.“ (1111 Augenblicke, S. 18)

*

Der Fotograf und Autor des Bildbands 1111 Augenblicke - Pandämonische Szenenbilder aus Köln ist der Kunstschaffende Richard Bargel, der sich als Sänger, Slide-Gitarrist, Schauspieler, Autor und Fotograf einen Namen gemacht hat. Seinen 70. Geburtstag und sein 50-jähriges Bühnenjubiläum durfte er wegen der Lockdowns nicht öffentlich feiern, aber als ein Mensch mit der inneren Notwendigkeit sich künstlerisch ausdrücken zu müssen konnte er die Füße nicht stillhalten. Also lief er durch seine geliebte Kölner Südstadt, die nicht mehr die selbe war und fotografierte zunächst drauf los. Erst einige Zeit später bei der Sichtung der zahlreichen Fotos wurde ihm klar, dass er umfangreich die Zeit der Corona-Maßnahmen dokumentiert hatte. Dann überschlugen sich die Ereignisse, die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine begannen, die Klimakrise rückte wieder in den Fokus, und derzeit sind wir von den Geschehnissen in Palästina/ Israel schockiert.

Bei derart traumatisierenden Ereignissen ist es ganz gut, einmal ein paar Schritte zurückzugehen und sich mit den einschneidenden Erlebnissen Anfang 2020 zu befassen. Bei 1111 Bildern konnte es Bargel dem Betrachter nicht noch einfacher machen, sich in diese Zeit zurückversetzen, denn die Straßenbilder mit den geschlossenen Geschäften, den auf Abstand achtenden Maskenträgern, die oft zu den systemrelevanten Lebensmittelläden unterwegs waren, dürften in jeder Stadt ähnlich gewesen sein. Teststationen für den PCR-Test schossen wie Pilze aus dem Boden: In Köln wurde sogar ein Bordell dazu umfunktioniert, denn die Sexarbeiterinnen waren auch arbeitslos geworden. Die wenigen öffentlichen Sitzgelegenheiten wurden gut genutzt unter Beachtung der Abstandregeln. Meistens wenigstens. Auf vielen Fotos tragen die Menschen Masken, bei späteren Bildern sind dann auch wieder ganze Gesichter zu sehen, weil die Regeln zwischenzeitlich gelockert worden waren. Es spielen auch Straßenmusiker auf den Plätzen, mit Abstand versteht sich, darunter Klaus der Geiger, das soziale Gewissen von Köln. Natürlich hat Bargel überdies Vierbeiner beim Gassigehen fotografiert und Menschen, die sich ohne erkennbaren Grund auf der Straße aufhielten, weil der Mensch nun einmal ein soziales Wesen ist. Den Fotos von den leeren Straßen und der Architektur fehlt etwas Entscheidendes; ohne Menschen und Leben um sie herum wirken sie irreal.

Bargel selbst schildert diese Zeit eindrucksvoll in Wort und Bild, und einige prominente Mitstreiter äußern sich zu ihrer eigenen Wahrnehmung. Die Ärztin, ehemalige Bundestagsabgeordnete und Autorin Lale Akgün lernte erst einmal Kochen, um ihren mit Kochkünsten gesegneten Ehemann zu unterstützen. Das klappte ganz gut, aber ihre Backkünste waren trotz der neu erstandenen Utensilien nicht ganz so vielversprechend. - Der umtriebige Südstadtpfarrer Hans Mörtter hielt über die Social Media Kontakt zur Außenwelt, einmal die Woche gab es zusätzlich das „Kölner Wort zum Sonntag“ als Video. Da seine Lutherkirche auch Konzerte veranstaltet, steht er in engem Kontakt zur Künstler-Szene. Einige Musiker unter ihnen gaben Balkonkonzerte, und Rochus Aust installierte klangbasierte Künste im Basement des von außen zugänglichen Kirchturms. - Der Kabarettist Wilfried Schmickler bekam von seiner Frau ein 2000er Puzzle geschenkt, mit dem er sich ablenken und wegen der „sadistischen“ Puzzle-Hersteller abreagieren konnte. In seinem Beitrag behauptet er satirisch, zuhause Helm getragen zu haben aus Sorge davor, dass ihm die Decke auf den Kopf fiele.

Die Menschen haben insgesamt sehr unterschiedlich auf die Angst vor Ansteckung und die Existenzbedrohung durch die Lockdowns reagiert. Bei einigen kam die Blockwartmentalität durch, bei anderen der Gemeinschaftssinn. Als die Restaurants wieder „Essen to go“ anbieten durften, gab es Anzeigen von Anwohnern, weil sich die Käufer nicht an die vorgeschriebenen 50 Meter Abstand zum Restaurant hielten. Mit teilweise vernichtend hohen Strafen wurden aber die um ihre Existenz kämpfenden Wirte belegt. Die bereiteten doch die Speisen zu, wie hätten sie die Abstände draußen kontrollieren können. Außerdem wimmelt es in der Südstadt vor Gaststätten, sodass kaum eine 50 Meter entfernt von einer anderen steht. In einem Fall war das Ordnungsamt derart uneinsichtig und grausam, dass Nachbarn und Freunde das Geld für die horrende Strafe für den Wirt sammelten. Unterm Strich siegte die Solidarität. Viele dieser Ereignisse haben sich in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt, und nun haben wir 1.111 Bilder, die den Schrecken aber auch den (Über-)Lebenswillen festgehalten haben. Davon zeugen auch die schriftlichen Beiträge weiterer Prominenter wie Peter Pauls, Rich Schwab, Rolly Brings, „Bömmel“ Lückerath von den Bläck Fööß, Gerd Köster sowie Hülya und Martin Wolf.

Auch jenseits des öffentlichen Raumes gab es Initiativen wie die des Malers und Bildhauers Cornel Wachter, der versuchte zwei der wehrlosesten Menschengruppen miteinander zu verbinden, indem Kinder für die isolierten Senioren und Seniorinnen in den Pflegeheimen aktiv werden sollten. Die Idee war


„...eine Mal-Aktion, die alle verbinden sollte, auch über die Plexiglasscheiben, die verschlossenen Türen und Mauern hinweg. 'Die Welt ist immer noch bunt' entstand... Da waren die Pänz (Kölner Dialektwort für Kinder) in ihrer Eingesperrtheit plötzlich mit etwas Nützlichem beschäftigt und konnten sich über die tollen Reaktionen aus verschiedenen Richtungen freuen, Selbstbewusstsein, Sinn tanken. Heute hängen die Originale bei Ahl Lück (Kölner Dialekt für alte Leute) in Kölner Altenheimen." (S. 229)


Bargel resümiert: „Die Pandemie hinterlässt Spuren, in den Köpfen, den sozialen Verhaltensweisen, im Geldbeutel.“

Sein Buch hat er Ende 2023 im Rahmen einer kleinen Ausstellung einiger der Bilder präsentiert, was zu einem riesigen Auflauf führte, und er wurde als Chronist einer Zeit gefeiert, die sich vorher niemand hätte vorstellen können. Im Rückblick hat nicht die Machtlosigkeit die Oberhand gewonnen, sondern das Miteinander.




Die Severinsstraße in der Kölner Südstadt gehört normalerweise zu den belebtesten des Viertels © Richard Bargel


Helga Fitzner - 5. Dezember 2023
ID 14511

Weitere Infos siehe auch: https://www.richardbargel.de/1111-augenblicke


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