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Neue Bücher

Der Erste Weltkrieg

als angebliche Ursache

für den Rückgang der

deutschen Sprache

in der Welt





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Der studierte Germanist und Historiker Matthias Heine (1961 in Kassel geboren) hat sich einen Namen als scharfzüngiger Theaterkritiker und Kolumnist der Tageszeitung Die Welt gemacht. Dort untersucht er auch nicht ganz ohne Witz unter der Rubrik Ein Mann, ein Wort Wörter (nicht nur der deutschen Sprache), die im Lauf der Zeit und der Vermischung verschiedenster Kulturen einen Bedeutungswandel durchgemacht haben. Nun hat sich Heine allerdings in ein Kapitel deutscher Sprachgeschichte verstiegen, das man fast schon braun-sumpfig nennen könnte. Zugegeben, kein sehr schönes Bindestrich-Wort aus dem deutschen Sprachgebrauch.

Um sogenannte Bindestrich-Deutsche geht es dann auch gleich im ersten Kapitel von Heines neuem Sprach-Sachbuch Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland, das einige aber vermutlich gleich nach den ersten Seiten, in denen der Lynchmord an einem deutschen Einwanderers durch einen national gestimmten US-amerikanischen Mob als Beispiel der Mobilmachung im Ersten Weltkrieg beschrieben wird (und zwar nicht nur die im Schützengraben, sondern auch an der Sprachfront), in die Ecke flacken werden.

Deutsch als Militärjargon war für seinen knappen Kasernenhofton schon vor dem Ersten Weltkrieg bekannt. „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen.“ hat als politischer Leitspruch zur Reichseinigung nicht erst seit der Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II. vor der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands einen zweifelhaften Beigeschmack, der für den Ruf der deutschen Sprache in der Welt, was Heine auch eingesteht, nicht gerade förderlich war. Dass der Autor versucht die Rolle Bismarcks bei den deutschen Kolonisationsbestrebungen ab 1860 runterzuspielen, stößt allerdings etwas sauer auf. Überhaupt kommen Worte wie Imperialmacht in Heines Kapitel zur deutschen Kolonialgeschichte gar nicht erst vor. Da liest sich die Verbreitung der deutschen Sprache durch Missionarsschulen in Afrika, Asien und Ozeanien fast wie ein Bildungshilfeprogramm. Auch dass Heine die Verbrechen an den Herero und Nama nicht erwähnt, lässt sich nicht einfach damit entschuldigen, dass er nur ein Buch zum Einfluss der deutschen Sprache in der Welt geschrieben hat. Man möchte Heine zwar keinen Sprach-Revanchismus unterstellen, wie man dem von ihm erwähnten Allgemeinen Deutschen Sprachverein mit seinen Eindeutschungen und Umbenennungen in den kolonisierten Gebieten schon einen Sprach-Imperialismus vorwerfen muss, bisweilen einen Hang zum im unschuldigen Plauderton daherkommenden Geschichtsrevisionismus aber schon.

Heine geht in seinem trotzdem nicht ganz uninteressanten Buch vorrangig auch der Frage nach, inwieweit der Erste Weltkrieg und eine damit einhergehende Deutschfeindlichkeit in den Gebieten mit deutschen Minderheiten und der verloren Kolonien die Zurückdrängung der deutschen Sprache in der Welt befördert hat. Dass dabei auch ein sogenannter (Sprach-)„Verrat an Südtirol“ (so eine der Kapitelüberschriften) zu beklagen ist, nimmt zwar eine gängige Geschichtsinterpretation auf, die Heine im Überschwange der Literartur-Recherche aber recht einseitig postuliert. Wie die italienischen Faschisten dann mit den Südtirolern und ihrer Sprache umgegangen sind, steht auf einem anderen Blatt und wird von Heine auch detailliert beschrieben. Aber, man sollte keine Kriege vom Zaun brechen, wenn man hinterher nicht den Verlust von Gebieten beklagen will. Und so möchte man sich immer wieder mit dem Autor über seine Auslegungen streiten. Sei es nun über das sehr ausführliche Kapitel zum Einfluss der deutschen Sprache in der Kolonialgeschichte, über den Verlust von Westpreußen oder ob der aus Prag stammende jüdische Schriftsteller Franz Kafka deutscher oder tschechischer Nationalität war. Heine zitiert ausführlich dort, wo es ihm angebracht scheint, seine Thesen zu untermauern. Für eine wissenschaftliche Arbeit wären ein paar erklärende Fußnoten und mehr Quelleneinschübe sicher von Vorteil gewesen. So muss man sich mit der zugegeben recht umfangreichen Literaturliste (auch nur eine Auswahl) am Ende begnügen.

Zu loben ist sicher die enorme Rechercheleistung v.a. zum Kolonialkapitel, in dem Heine auch von einer deutschen Kreolsprache, dem sogenannten „Unserdeutsch“, berichtet, das sich unter Missionsschülern in Kaiser-Wilhelms-Land, einem Teil der damaligen Kolonie Deutsch-Neuguinea, unter den Kindern einer Missionsschule entwickelt hat, und auch heute noch von einigen wenigen Menschen in Australien gesprochen wird. Die Aufzählungen der vielen deutschen Lehnwörter in afrikanischen und ozeanischen Pidgin-Dialekten langweilen aber auf die Dauer, wie auch die permanenten Erwähnungen von Städte- und Straßenumbenennungen durch Engländer und US-Amerikaner in ehemaligen Gebieten mit deutschen Ansiedlungen. Und dass der Hot-Dog mal Frankfurter hieß, dürfte allgemein bekannt sein. Dass die Sieger hier wenig zimperlich bei der Verdrängung der deutschen Sprache umgingen und ihre eigenen zweifelhaften Nationalhelden als Namensgeber einsetzten, verdeutlicht ja nur, wie die Sprache immer wieder von allen Seiten für nationalistische Zwecke missbraucht wurde und wird. Wobei Volkszugehörigkeit durch eine gemeinsame Sprache ja heute im Zuge der Migrationsdebatte durchaus wieder neu zu bewerten wäre.

Immer wieder holt Heine auch Leumundszeugen für seine Schlussfolgerungen hervor. Im sehr ausführlichen Kapitel über die k.u.k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ist es der in Galizien geborene Schriftsteller und Radetzkymarsch-Autor Joseph Roth. In den Zeiten des Niedergangs der Hegemonie des Habsburgerreichs durch verschiedenste nationalistische Bestrebungen im Vielvölkergebilde waren gemäß Heine oft gebildete Juden (wie eben Roth oder Kafka) die Vorreiter und Verteidiger der deutschen Kultur und somit auch der deutschen Sprache, was sicher auf den weitverbreiteten Antisemitismus in den östlichen Gebieten an der Grenze zu Russland zurückzuführen ist. Eine Loyalität, die den Juden aber weder von österreichischer noch deutscher Seite jemals gedankt wurde. Die Einbeziehung des Jiddischen und seiner Verbreitung in Heines Analyse hätte da einiges gut machen können. So liest man nur Auszüge aus Berichten von der Südseefahrt Emil Noldes, des berühmten Malers blühender Klatschmohnfelder und exotischer Südseeparadiese, dessen spätere Nähe zu den Nazis wohl nicht von ungefähr kam. Weiterhin betrauert Heine den Abfall der Schweiz von der deutschen Sprache und den Niedergang des Deutschen als führende Wissenschaftssprache. Dass dem Boykott deutscher Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg ein nationalpatriotischer Aufruf der geistigen Eliten des deutschen Reichs zu dessen Beginn vorausging, verschweigt Heine nicht, auch nicht den Beitrag deutscher Wissenschaftlern wie Fritz Haber, dem Planer des deutschen Gaskrieges.

Dass sich Heine zu sehr mit der Bedeutung von Deutsch als Weltsprache beschäftigt und auch zu guter Letzt nach dem Motto: „Was wäre wenn...“ spekuliert, wie es heute um die Verbreitung der deutschen Sprache bestellt wäre, hätte es den Ersten (und weiterführende Spekulation: somit auch den Zweiten) Weltkrieg nicht gegeben, trägt nicht gerade zur ernsthaften Auseinandersetzung mit Sprache als Kampfgebiet und Machtinstrument der Kolonisation und Unterdrückung bei. Da hilft auch nicht, dass er sich hypothetisch gesehen etwas aus der Rückwirkung deutscher Kreolsprachen aus dann heute noch deutschen Gebieten auf das heimische Deutsch verspricht. Über Verbreitung und Schicksal der Russland- oder Rumänien-Deutschen liest man im Buch so gut wie nichts. Und auch das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und da v.a. ab den 1960er Jahren durch mehrere Anwerbungsabkommen mit süd- und südosteuropäischen Ländern sowie der Türkei zum Einwanderungsland geworden ist, kommt bei Heine nicht vor. Sicher sind diese Entwicklungen bei weiten nicht so prägend wie in den ehemaligen Kolonial-Mutterländern Frankreich und Großbritannien, aber auf die deutsche Sprache haben zumindest die Kinder der Wirtschaftsmigranten in zweiter und dritter Genration einen gewissen Einfluss mit der Herausbildung von Straßen- und Szeneslangs auf Rap und Literatur ausgeübt. Die Beispiele dafür muss man hier nicht extra aufführen.


Stefan Bock - 8. September 2018
ID 10897
Link zum Sachbuch: http://www.hoffmann-und-campe.de/buch-info/letzter-schultag-in-kaiser-wilhelmsland-buch-9491/


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