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America

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„Gewalt, erlebt man sie bei sich zuhause, ist etwas Entsetzliches – wie der Anblick von Kleidern in einem Baum nach einer Explosion. Man mag darauf vorbereitet sein, den Tod zu sehen, aber nicht die Kleider in dem Baum.“ (Philip Roth, Verschwörung gegen Amerika, S. 405)


Am 22. Mai dieses Jahres verstarb der amerikanische Schriftsteller Philip Roth im Alter von 85 Jahren. Er wurde zeitlebens vielfach ausgezeichnet und hinterlässt ein bemerkenswertes Lebenswerk von rund 30 Romanen. Viele seiner Bestseller wurden starbesetzt und recht sehenswert für das Kino verfilmt, etwa Amerikanisches Idyll (2016, Regie: Ewan McGregor), Elegy oder die Kunst zu lieben (2008, Regie: Isabel Coixet) und Der menschliche Makel (2003, Regie: Robert Benton). In seinen Romanen und Essays beschäftigte er sich oft mit seiner jüdisch-amerikanischen Identität. Vieldiskutiert ist insbesondere auch Verschwörung gegen Amerika (2005; englischsprachiges Original The Plot against America, 2004).

*

Als Alternativweltgeschichte erzählt der Roman in einem Gedankenspiel von einer faschistischen Machtübernahme in Amerika zur Zeit des Dritten Reiches. Der berühmte, US-amerikanische Flieger Charles Lindbergh (1902-1974) wird in Roths Fiktion zum Präsidenten gewählt. Dieser schottet Amerika in autokratischer Manier vom Kriegsgeschehen rund um Deutschland ab. Als republikanischer Präsident schürt Lindbergh den nationalen Egoismus mit einer „America First“-Politik, erstaunlicherweise ähnlich erfolgreich, wie die des gerade amtierenden republikanischen Präsidenten Donald Trump. Lindbergh schürt als Antisemit und Faschistenfreund Furcht und Schrecken unter den amerikanischen Juden, auch bei der in Newark lebenden Familie Roth.

Meisterhaft verknüpft Roth hier seine Erzählung mit seiner persönlichen Familiengeschichte und baut auch weitere historische Quellen und Personen mit ein. Erzählt wird der Roman aus der kindlichen Sicht eines siebenjährigen Philips, der ängstlich und sensibel nach Rollenvorbildern und einem Halt in der Welt sucht: 


„Vor allem aber fürchtete ich den Keller wegen derer, die schon gestorben waren – also meine zwei Großväter, die Mutter meiner Mutter und die Tante und der Onkel, die früher Alvins Familie gewesen waren. Ihre Leiber mochten neben der Route 1 an der Newark-Elizabeth-Linie begraben sein, doch um unsere Angelegenheiten zu überwachen und unser Betragen im Auge zu behalten, hausten ihre Geister zwei Stockwerke unter unserer Wohnung. Ich hatte wenig oder gar keine Erinnerung an diese Menschen, nur an meine Großmutter, die starb, als ich sechs war, aber wenn ich allein in den Keller ging, kündigte ich ihnen allen jedes Mal an, ich sei auf dem Weg, und bat sie, sich von mir fernzuhalten und mich nicht zu bedrängen, wenn ich in ihre Mitte träte. Als Sandy so alt war wie ich, wappnete er sich gegen seine eigene Angst, indem er die Treppe hinunterrannte und schrie: 'Böse Männer, ich weiß, dass ihr da unten seid – ich hab eine Pistole', während ich hinunterschlich und flüsterte: 'Ich bitte um Entschuldigung für alles, was ich jemals falsch gemacht habe.'“ (S. 193)


Philip erlebt die Ohnmacht seiner Eltern mit, die in kurzer Zeit mit massiven gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Einschränkungen konfrontiert werden. Während seine Tante Evelyn und bald auch sein Bruder Sandy von der amtierenden Regierung für ein obskures Programm vereinnahmt werden, geht sein Vetter Alvin nach Kanada, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Konflikte, auch innerhalb der Familie, scheinen vorprogrammiert. Für den Heranwachsenden Philip brechen sich Gefühle des Chaos, der Hilflosigkeit und Schwäche bahn. Er hinterfragt die Tugend seiner Bezugsgruppe, Konflikte gewaltfrei lösen zu wollen und lässt seine Sorgen auch rückblickend Revue passieren:


„In jener Zeit neigten die allermeisten Juden weder der Gewalt noch dem Alkohol zu, eine Tugend, deren Nachteil darin bestand, dass die Mehrheit der Jugend meiner Generation nicht zu jener kampfbereiten Aggressivität erzogen wurde, die das oberste Ziel anderer ethnischer Erziehungsmethoden war und zweifellos von enormem praktischem Wert, wenn man es nicht mehr schafft, Gewalt mit Worten aus dem Weg zu gehen oder vor ihr davonzulaufen.“ (S. 402)


Der Romancier Roth zeichnet seine Charaktere präzise und entwirft regelmäßig neue spannende Figurenkonstellationen. Während etwa Philip mit der Unrast seiner Eltern und der örtlichen Gemeinschaft von Juden zunehmend überfordert scheint, gewinnt sein zwölfjähriger Bruder Sandy den sich ändernden Bedingungen auch Vorteile ab. Selbstbewusst rebelliert Sandford gegenüber den zunehmend verzweifelnden Eltern. Philip bewundert seinen Bruder wegen seines Zeichentalentes, seines Erfolges bei den Mädchen und seiner körperlichen Stärke nach der Kinderlandverschickung auf einen Bauernhof. Nach einer Autofahrt mit dem Vater quer über das Land weiß jedoch auch Sandy nur noch von der großen Angst zu berichten, die die Diskriminierung der Juden und der handgreifliche Antisemitismus auch bei ihm auszulösen vermag:


„Angst, erzählte Sandy, wenn sie an den Kühen und Pferden und Scheunen und Silos vorbeirasten und kein anderes Auto in Sicht war; Angst, wenn sie in den Bergen auf Straßen ohne Seitenstreifen oder Leitplanken Serpentinen hochfuhren; Angst, wenn die asphaltierte Straße in Schotter überging und der Wald sich um sie schloss, als seien sie Lewis und Clark. Und Angst erst recht, weil sie kein Autoradio hatten und nicht wussten, ob das Judenmorden aufgehört hatte oder ob sie mitten aufs Zentrum des gegen Leute wie uns entfesselten Blutrauschs zusteuerten.“ (S. 489)


Verschwörung gegen Amerika ist ein höchst unterhaltsames, bewegendes und packendes Werk. Für seine Entstehungszeit ist der Roman auch unverhofft prophetisch - mit Blick auf die rückwärtsgewandte, protektionistisch-nationalistische Politik und die gefährlich narzisstisch geprägte Persönlichkeit des amtierenden amerikanischen Präsidenten Trump. Auch seine Politik lässt erwarten, dass sich das gesellschaftliche Klima insbesondere für Minderheiten verschlechtern könnte.


Ansgar Skoda - 28. August 2018
ID 10873
Link zum Buch: https://www.rowohlt.de/taschenbuch/philip-roth-verschwoerung-gegen-amerika.html


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