Bilder und
Gedanken im
kommenden Jahr
|
|
Bewertung:
Wie magische Siegel schweben runde Blütenformen des Gemäldes Die zehn Größten, Nr 2., Kindheit, Gruppe IV von Hilma af Klint, der Begründerin der abstrakten Malerei, auf dem Cover des Literaturkalenders Kunst 2026. Auf 53 Blättern im Format 24 x 32 cm ordnet der Kalender den Wochen (fortan: KW) Gemälde farbig in unterschiedlichen Zuschnitten zu. Beschriftungen der Bilder nennen meist ergänzend Museen, in denen die Originale aktuell hängen. Darunter regen Verszeilen zum Nachdenken an, durch die der Kalender eine mögliche Botschaft des Bildes unterstreicht, oder es sogar in einen neuen Zusammenhang stellt. Nahezu vorbildlich erscheint im Kalender die gleichberechtigte Verteilung zwischen weiblichen und männlichen Urhebern; sowohl bei den Bildern als auch bei den Sinnsprüchen.
In dem Kalender abgedruckte Werke etwa vom Wiener Jugendstil-Vertreter Gustav Klimt, vom Italiener Sandro Botticelli, von den französischen Impressionisten Camille Pissaro, Paul Signac und Pierre-Auguste Renoir und vom Tschechen Alphonse Mucha erscheinen gemeinhin wohlbekannt. Insbesondere an Leonardo da Vincis Mona Lisa in KW 34 hat sich so mancher gewiss schon sattgesehen, da hilft dann auch kein Sinnspruch von Heraklit über versteckte Schönheit mehr.
Demgegenüber überraschen dann doch auf den ersten Blick Gemälde wie Das Atelier vom Franzosen Raoul Dufy in KW 5, Mademoiselle Julie Feurgard (Unter den Apfelbäumen) von Marie Louise Cathérine Breslau in KW 18, Schloss Alnwick von William Turner in KW 20, Apfelstillleben von Eugenie Bandell in KW 39 oder das Bildnis Junge Frau, lesend von Mary Cassatt in KW 47.
Gerade das abgedruckte facettenreiche Oeuvre von Malerinnen beeindruckt oftmals, wie etwa Provence Landschaft der deutschen Malerin Mathilde Battenberg in KW 6 oder Glasvase mit Blumen der Italienerin Giovanna Garzoni, mit einem Spruch von George Sand in KW 43. Ein farbenfreudiger Höhepunkt des Kalenders ist sicherlich Liebeswirbel von Marianne von Werefkin in KW7, unter dem ein intim anmutendes Zitat von Mary Wollstonecraft abgedruckt ist, der einflussreichen Mutter von Frankenstein-Autorin Mary Shelley.
Gelungen ist auch die Idee, dass Bilder von Künstlern durch kurze Aussprüche dieser selbst bereichert werden, unter anderem bei Vincent van Gogh in KW 9, Hilma af Klint mit dem Covermotiv in KW 10, Michelangelo in KW 14, László Moholy-Nagy in KW 24, Paula Modersohn-Becker in KW 36, Käthe Kollwitz in KW 45 oder Kurt Schwitters in KW 46.
Das Gros der Gemälde wird jedoch durch Sinnsprüche namhafter Autoren der Epochen Romantik, Biedermeier oder Realismus unterlegt, mit Zitaten aus den Federn etwa von Gottfried Keller, Novalis, Annette von Droste-Hülshoff, Bettina von Arnim, Karoline von Günderrode oder Conrad Ferdinand Meyer. Einige Zitate erscheinen recht banal (KW 3 oder KW 22), andere hingegen sind höchst geistreich und treffend zu den Gemälden ausgewählt (KW 1 oder KW 16). Zu den mir weniger bekannten Autoren, deren Gedanken Bildern zugeordnet werden, zählen Franziska von Reventlow, Karl Ernst Knodt, Christina Rossetti, Clara Müller-Jahnke, Richard Dehmel, Anna Enders-Dix oder Carry Brachvogel. Abgedruckte Sprüche verleiten mich oft dazu, mehr über die Urheber herausfinden zu wollen, etwa bei der soeben Letztgenannten.
Zu den wenigen englischsprachigen Autoren, deren Gedanken als Sinnsprüche Bildern beigefügt werden, zählt neben Oscar Wilde auch Emily Brontë. In KW 20 wird so Gustave Caillebottes Gemälde Das Haus zwischen den Bäumen höchst andeutungsreich unterlegt mit ihren folgenden Zeilen:
„Liebe ist wie der wilde Rosenstrauch,/ Freundschaft wie die Stechpalme./ Die Stechpalme ist nichts, wenn die Rose blüht,/ aber welche blüht beständiger?“ (Emily Brontë)
Caillebottes ruhiges Bild deutet ein hinter Bäumen und einem Holzzaun verstecktes Haus an. Es steht umgeben von einem blühenden Garten mit Rosensträuchern und ist gesäumt von einem Weg. Das impressionistisches Ölgemälde lässt Raum für freie Assoziationen von geheimnisvoller Zurückgezogenheit und wohlgeordneter Behaglichkeit. Der Kalender ergänzt es durch ein mit Sprache evoziertes Bild Brontës, das zum Nachdenken über menschliche Liebes- respektive Freundschaftsbeziehungen anregt:
Obwohl Rosen oftmals im Garten eine volle Aufmerksamkeit durch ihr Farbenspiel und ihren Duft einfordern, vergeht ihre Blütenpracht spätestens im Winter. Stechpalmen (Ilex) bilden von Mai bis Juni weiße Blüten und im Herbst entstehen daraus rote Beeren, die bis in den Winter hinein sichtbar bleiben und für Vögel eine wichtige Nahrungsquelle sind. Noch im tiefen Winter sind neben ihren Beeren auch ihre glänzenden, immergrünen Blätter farbenfroh lebendig, während Rosen als weniger winterfest gelten. Emily Brontë deutet hier an, dass so manche Freundschaften beständiger als die Liebe sind. Sie schrieb mit Die Sturmhöhe eine der ergreifendsten Liebesgeschichten der Weltliteratur. Doch ihr eigenes kurzes Leben (1818-1848) war der Literaturforschung zufolge vor allem durch eine innige Freundschaft mit ihren talentierten Geschwistern geprägt, mit denen sie zeitlebens abgeschieden in Yorkshire zusammen lebte.
Solcherart gelungene Verbindungen zwischen Bildeindrücken und Verszeilen lassen den Kalender zu einem kleinen Ereignis werden.
Ansgar Skoda - 13. Oktober 2025 ID 15511
Korsch-Link zum
Literaturkalender Kunst 2026
Post an Ansgar Skoda
skoda-webservice.de
Bücher / Kalender
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE Reihe von Helga Fitzner
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|