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Rezension

Wolfgang Herrndorf | Arbeit und Struktur

Rowohlt Berlin, 2013
ISBN 978-3-87134-781-8




Ein Buch über das Sterben - und das Leben

„Beim Aufstehen am Morgen drei oder vier Meter rückwärts durchs Zimmer getaumelt und mit Kopf und Nacken gegen die Tischkante geknallt.“ Ende August 2013 hat sich der an einem unheilbaren Gehirntumor erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf das Leben genommen. Die Einträge aus seinem Blog Tagebuch Arbeit und Struktur hat der Rowohlt Verlag posthum als Buch zusammengefasst: Es ist eine eindringliche Hymne auf das Leben geworden.

„Schluss: Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“ Dieser Satz beschließt das digitale Tagebuch, mit dem der Schriftsteller Herrndorf seit Herbst 2010 das eigene Sterben begleitet hat. Ein Blog, den er eigentlich nur für seine Freunde geschrieben hat, den er aber auf Anraten von eben diesen dann öffentlich gemacht hat. Sascha und Meike Lobo helfen ihm dabei. In dem Blog berichtet Herrndorf über sein Leben mit der Krankheit: von Glück und Unglück, der Angst und dem Überlebenskampf.

So schreibt Herrndorf im April 2010: "Was ich brauche, ist eine Exitstrategie. Ob ich die Disziplin habe, es am Ende auch zu tun, ist noch eine ganz andere Frage. Aber es geht, wie gesagt, um Psychohygiene. Ich muß wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin. Weiter nichts. Die mittlerweile gelöste Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe."

Dass sich selbst die Eintragungen über Chemotherapie und Operationen erträglich lesen, liegt an der Unbeschwertheit von Herrndorfs Sprache. Nie drängt er sich auf, nie macht er den Leser zum Voyeur. Im Gegenteil, man wünscht sich diesen todgeweihten Menschen als Freund, will ihm beistehen bis zum letzen Atemzug. Je weniger Zeit ihm bleibt, desto mehr zieht einem sein schriftstellerisches Talent in den Bann.
Wer den Blogeintrag von 23. Juli 2013 gelesen hat, wird das auf Anhieb verstehen: „Die Libelle, die ich gestern am Terrassenfenster sah und der ich den Weg ins Freie mehrfach gewiesene hatte, bis sie für mich nicht mehr zu finden war. Jetzt liegt sie auf den Fliesen. Ich beobachte das Wunderwerk auf dem Boden. Es liegt in den letzen Zügen. Nur ein Beinchen zuckt noch. Oder auch nicht. Ich trage das Insekt vorsichtig in eine windgeschützte Ecke der Terrasse. Ich plaziere einen winzigen Wassertropfen nah an seinen Mund und beobachte lange die vielleicht nur noch vom Wind bewegten Arme. Sie ist tot. Ich schiebe den Leichnam in eine Streichholzschachtel. Mit C. bestatte ich die Libelle am Ufer.“

C. ist seine Frau. Sie ist seine engste Gefährtin. "C. geht es beschissen, mir geht es beschissen. Zusammen ist es okay", notiert er an einer anderer Stelle.


Todesreflexionen


Im März 2010 erfährt Wolfgang Herrndorf, dass er Krebs hat, in seinem Kopf unabwendbar eine Zeitbombe tickt: ein Glioblastom. (Eine besondere Tumorart - Irrtum und Auslassung sind ausgeschlossen.) Es ist eine Frage von Monaten, bestenfalls ein, zwei Jahren, teilen ihm die Ärzte mit. Andere würden zusammenbrechen. Herrndorf ist anders gestrickt. Sein Naturell zwingt ihn zur Arbeit. Beim Schreiben kann er sich von seiner Krankheit ablenken. „Am besten geht's mir, wenn ich arbeite", schreibt er im April 2010.

Zunächst geht der Plan auf. Herrndorf entwickelt eine Arbeitswut, die sein Verlag vorher an ihm nicht gekannt hatte. Binnen weniger Monate schreibt er Tschick fertig und ein weiteres Jahr später den fast 500 Seiten umfassenden Roman Sand. Die Leistung ist nur zu einem kleinen Teil den im Block beschriebenen manischen Phasen zu verdanken. In beiden Büchern stecken zum Zeitpunkt der Diagnose schon mehrere Jahre Arbeit.

Doch dann setzen Herrndorf etliche Operationen und verschiedene Chemos immer mehr zu. Und nur mit schwärzestem Galgenhumor kann er sich über Wasser halten. „Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und das Glioblastom der Rolls-Royce. Mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich dieses Blog jedenfalls nie begonnen.“


Seine letzter Wille wurde erfüllt


Das aus seinem Blog Arbeit und Struktur ein Buch entsteht, habe sich Herrndorf selbst gewünscht, schreiben sein Lektor Marcus Gärtner und seine Schriftstellerkollegin Kathrin Passig in ihrem Nachwort. In den Vorgaben dafür habe der Autor ausdrücklich um eine genaue medizinisch-fachliche Beschreibung seines Todes mit dem Revolver gebeten - "Wie es gemacht wurde; wie es zu machen sei. Oder bei Misserfolg eben: Wie es nicht zum machen ist. Kaliber, Schusswinkel, Stammhir etc., für Leute in vergleichbarer Situation", heißt es im Nachwort. Seine schriftlich festgehaltenen Vorgaben beschloss er mit einem Zitat von Stendhal: „Ich wollte, das dieses Buch wie der Code civil geschrieben sei. In diesem Sinne sind alle dunklen oder unkorrekten Sätze zu korrigieren.“


Mit Blick aufs Wasser


Sein Grab wünschte Herrndorf sich auf dem Friedhof von Grunewald. „Und wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zugeschweißten Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort wo ich starb.“ Wofgang Hernndorf wurde nur 48 Jahre alt.


* * *


Das Buch Arbeit und Struktur lässt den Leser in die Gedanken und das Schaffen eines durch seine Krankheit zum Tode Verurteilten blicken. Es ist ein starkes, trauriges und sogar witziges Werk - ganz durchdrungen von einem selbstbestimmten Leben. Bis zur letzten Seite.



Bewertung:    



Mario Bartsch - 13. Januar 2014
ID 7505
Wolfgang Herrndorf | Arbeit und Struktur
Gebundene Ausgabe, 448 Seiten
Rowohlt Verlag; 2013
19,95 Euro
ISBN: 978-3871347818



Siehe auch:
http://www.rowohlt.de


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