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Rezension

Thomas Tetzner - Der kollektive Gott - Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland

Wallstein Verlag 2013
ISBN 978-3835312388



Bruderkuss mit Gott

Revolutionsziel neuer Sowjetmensch. Die russische Revolution richtete sich nicht nur gegen überkommene Eigentums- und Machtverhältnisse. Auch der bisherige Mensch sollte überwunden werden, um einer neuen, höheren Existenzform Platz zu machen – dem „Neuen Menschen“. Nur eine diffuse Utopie? Dieser Frage geht Thomas Tetzner in seinem Buch nach.

Für das frühe Christentum war die Vergöttlichung des Menschen - konkret: die eucharistische Eingliederung in den mystischen Leib Christi - eine Offerte Gottes selbst, denn er war Mensch geworden, um uns an sich teilhaben zu lassen und also zu verklären. Eine verlockende Heilsversprechung, der revolutionäre Denker bis heute nicht widerstehen können. Die für totalitäre Botschaften nicht besser erdacht sein könnte. Der Pfad Gottes führt geradewegs in die Revolution: Aus göttlicher Sklaverei gestaltet sich der freie Mensch, der Sozialismus. Ein hehres Ideal voller Vorbehalte, das Tetzner in seinem Buch aufzudröseln versucht. Im Klapptext heißt es dazu: „Erstmals wird hier eine zentrale utopische Hoffnung der Russischen Revolution ideengeschichtlich entschlüsselt und erklärt.“

Die zentrale Frage des Buches lautet also: War diese Idee von einem „neuen Menschen“ tatsächlich bloß eine vermessene „totalitäre Verirrung“ des 20. Jahrhunderts – oder muss man sie im Gegenteil als modere Fortsetzung einer uralten kulturgeschichtlichen Tradition begreifen?


Wo liegen die ideellen Wurzeln des „Neuen Menschen“


Für die Entschlüsselung dieser komplexen Thematik geht Tetzner, kulturgeschichtlich gesehen, bis an die Wurzeln der Menschheit zurück. Von Mesopotamien, dem Gilgamesch-Epos schlägt er den Bogen bis hin zur Russischen Revolution.

Anhand dieser unterschiedlichen religiösen, philosophischen, literarischen und politischen Quellen versucht Tetzner die historische Genealogie und Genese der Idee des „Neuen Menschen“ in Russland zu rekonstruieren. Will damit aber auch beweisen, dass es sich bei der Idee vom „Neuen Menschen“ um das ursprünglich religiöse Motiv einer „korporativen Vergöttlichung“ handelte:

"Die geisteswissenschaftliche Problematik und Relevanz des Themas besteht also darin, dass zwar schon mehrfach die allgemeine Bedeutung des 'Neuen Menschen' für die Russische Revolution konstatiert und mit entsprechenden Beispielen illustriert wurde, dass aber die Frage, was diese Idee selbst zu bedeuten hatte, woher sie rührte und worauf sie demzufolge abzielte, damit noch lange nicht beantwortet ist: Ihr spezifischer Gehalt blieb bislang so diffus und mehrdeutig wie der Begriff 'Neuer Mensch' selbst, denn allein aus sich selbst und ihrer Zeit heraus ist sie m.E. nicht zu verstehen.

(...) Solange eine inhaltliche Bestimmung, d. h. eine nachvollziehbare Interpretation auch dieser Denkfigur fehlt, so lange ist die Frage unbeantwortbar, ob sich der 'Neue Mensch' des frühen Christentums und der des revolutionären Russlands wirklich zu einer ideengeschichtlichen Einheit fügen.“



Die Weltbilder russischer Denker


„Eine gewisse Skepsis gegenüber dem nüchternen positivistischen Materialismus der russischen Sozialdemokratie Plechanowscher und Leninscher Prägung zeigte sich Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in den Reihen des 'Neuen religiösen Bewusstsein' bei den sog. 'Gottessuchern (bogoistateli)', sondern trieb auch einige sozialistische Intelligenzler und Parteimitglieder um, darunter Anatoli Lunatscharski, Maxim Gorki, Alexander A. Bogdanow und Vladimir A. Basarow. Diese versuchten daher, den russischen Marxismus durch verschiedene andere philosophische Lehren und Ideen (von Avenarius, Mach, Nietzsche) zu ergänzen und etwa um eine besondere erkenntnistheoretische, 'subjektive', normative oder ästhetische Perspektive zu erweitern …“ Eine Tendenz, der Lenin in seiner verfassten Schrift Materialismus und Empiriokritizismus sehr widersprach. Die aber insbesondere in Lunatscharski einen Fürsprecher gefunden hatte.

"Was meinte Lunatscharski (1875-1933) nun mit seiner 'gottbildnerischen' These vom Sozialismus als einer 'Religion'? (…) Nach Lunatscharski entwerfen die Menschen in der Religion sowohl eine Erklärung für die reale Welt (Schöpfung, Sündenfall) als auch einen Plan zur Überführung ebendieser Welt in einen idealen Zustand (Reich Gottes), den sie dann also verfolgen (Kulthandlungen).

Mit der modernen Ablösung der religiösen durch eine natur- und sozialwissenschaftliche Welterklärung wäre nun zwar die tradierte Vorstellung von einem göttlichen Ursprung sowie von der allzu menschlichen Gegenwart der Welt samt der daraus abgeleiteten Möglichkeiten ihrer Überwindung endgültig hinfällig geworden (Evolution statt Schöpfung, Privateigentum statt Sündenfall, Aufklärung statt Abendmahl, Revolution statt Apokalypse).

Die Hoffnung auf eine übermenschliche Zukunft habe sich damit aber keineswegs als illusorisch blamiert, sondern würde im Gegenteil erstmals realistische Konturen gewinnen. Diese Zukunft sei der Sozialismus."



Profanisierung des „Neuen Menschen“


Tetzners Resümee lautet schließlich: "Bis in die 30er Jahre hinein hatte das Motiv des 'Neuen Menschen' in seinen verschiedenen Facetten in der Sowjetunion eine bedeutende kulturelle und politische Rolle gespielt. Doch nach dem Großen Vaterländischen Krieg und Stalins Tod 1953, mit dem Wiederaufbau des Landes und des gesamten Ostblocks, setzte sich die Profanisierung der Idee nur weiter fort. (...) Der 'Neue Mensch' hatte längst aufgehört, ein Heilsversprechen zu sein und war zum subjektiven Faktor der sozialistischen Produktivkraftentwicklung degradiert worden."


Fazit:


Tetzner hat ein intelligentes Buch geschrieben, das inhaltlich eine große diagnostische Qualität besitzt. Zielsicher beweist er, dass der Begriff vom „Neuen Menschen“ keine Erfindung der Bolschewiki und auch kein marxistischer Import war, sondern gegenteilig sogar unter dem regelrechten ideologischen Argwohn der Partei diskutiert wurde, die solch untopischer „Träumerei“ deutlich ablehnend gegenüberstand.

Mario Bartsch - 22. Juli 2013
ID 6978
Thomas Tetzner; Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des „Neuen Menschen“ in Russland
400 Seiten
Wallstein Verlag; 2013
€ 39,90 (D) | € 41,10 (A) | SFr 51,90
ISBN 978-3835312388



Siehe auch:
http://www.wallstein-verlag.de/9783835312388-thomas-tetzner-der-kollektive-gott.html


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