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Rezension

Jochen Schmidt - Schneckenmühle

Langsame Runde | Roman
C. H. Beck, 2013
ISBN 978-3-406-64698-0




Lässige Sprüche, rastloses Philosophieren über Gott und die Welt, Herzklopfen beim Anblick tanzender Mädchen, dämliche Witzeleien unter der Dusche, heimliche Ausflüge ins Mädchenhaus und am Abend die ersehnte Disko inklusive der flirrenden Erfahrung einer ersten Liebe: Schneckenmühle ist ein Ferienlager der Vorwendezeit, nahe eines Naturschutzgebietes, wo die Jugendlichen aus Ostberlin ihre Sommerferien verbringen. Doch Schneckenmühle steht auch für die Mühle des behutsamen Heranreifens, jener um sich selbst kreisende Zustand am Rand des Erwachsenwerdens.

Im Mittelpunkt dieses Romans des Berliner Autors Jochen Schmidt steht der 14-jährige Ich-Erzähler Jens, der im Sommer 1989, wenige Monate vor dem Zusammenbruch der DDR, ein letztes Mal in das geliebte Sommerlager fährt, voller Vorfreude und Abenteuerlust. Dort wird sich Jens in Peggy verlieben, die er auf der Krankenstation kennen lernt und am Ende wird er mit ihr sogar einen Fluchtversuch unternehmen, aus Solidarität, oder einfach, weil es so spannend ist.

Der Untertitel des Romans, "Langsame Runde", steht für eine Entschleunigung, bei der die Ereignisse in Zeitlupe abgebremst werden und dadurch Bedeutung erlangen. Der Ausdruck bezeichnet ursprünglich einen Stehblues, die jungen Paare kleben unbeholfen aneinander, ein erster Kuss vielleicht, ein magischer Moment, wie man ihn vorher kaum erwarten konnte und später selten wiedererlebt.

Jens, der jugendliche Ich-Erzähler, beschäftigt sich vor allem mit sich selbst. Ein in sich gekehrter, ungeschickter, versonnener Junge, der nicht tanzen kann und doch, auf der Abschlussparty, jene "langsamen Runden" mit Peggy drehen wird. Vorerst aber plagen ihn Ängste, martern ihn Fantasien: Möglicherweise trägt er die falschen Hosen, vielleicht benimmt er sich auf der Tanzfläche uncool oder er hat die falsche Frisur? Während die Fliehkräfte der alten DDR allmählich an Fahrt aufnehmen, dreht sich Jens immer langsamer um sich selbst, doch das Schneckenhaus seiner kindlichen Welt wird ebenso untergehen wie der Staat, der seine Heimat ist. Nur am Rande, fast unmerklich, erscheinen die Anzeichen einer neuen Zeit. Jens aber fehlt der Sinn dafür, er bemerkt es nur im Vorbeigehen, etwa, wenn die ersten Betreuer unbemerkt aus dem Lager fliehen. Doch dieser Grübler und schwermütige Kerl hält sich nicht lange damit auf. Seine Themen sind die Liebe und die Zeit und die scheußliche Vergänglichkeit selbst der wunderbarsten Dinge.

Indem Jochen Schmidt diesen Sommer der Wandlungen konsequent aus der Perspektive seines 14-jährigen Protagonisten erzählt, entsteht eine höchst anregende Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse. Während der introvertierte Erzähler seine Wahrnehmungen akribisch aneinanderreiht, dringt in sein Bewusstsein nichts von den welthistorischen Umstürzen jener Monate. So scheint die kleine Welt der Schneckenmühle fast unberührt vom allmählichen Niedergang des DDR-Staates. Und dieser Eindruck der Unversehrtheit von den politischen Erschütterungen gelingt dem Autor, weil seine schöne und einfache Sprache dem Helden genug Luft zum Atmen lässt und so konsequent das Weltgefühl des Vierzehnjährigen nachahmt.
Der Roman Schneckenmühle ist eine hinreißende Geschichte, die voller Wärme von der inneren Wandlung ihres Helden in den aufreibenden Zeiten des Umbruchs erzählt. Eine verletzbare und sanfte Entwicklung, die am Rande der großen Weltgeschichte den Blick auf die einfachen, die bedeutenden Dinge des Lebens lenkt: "Ich kann es gar nicht glauben, Mischen, Käuzchenruf, Fliegenfangen und jetzt auch noch Tanzen, ich habe in so kurzer Zeit so viel gelernt wie noch nie im Leben." Aber was für eine wunderbare und schreckliche Wandlung ist es doch, erwachsen zu werden: "Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern gar nicht wussten, wer ich war, weil sie die letzten Wochen nicht miterlebt hatten. Es hatte gar keinen Sinn, ihnen davon zu erzählen, weil es nicht möglich war, alles genau so zu beschreiben, wie es gewesen war."





Jo Balle - 8. Juni 2013
ID 6826
Jochen Schmidt - Schneckenmühle
220 S., geb.
C. H. Beck, 2013
ISBN 978-3-406-64698-0
17,95 €



Siehe auch:
http://www.chbeck.de


Post an Dr. Johannes Balle



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