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Rezension

Gertrud Leutenegger | Panischer Frühling

Roman




Bewertung:    



Was geschieht, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten? Wenn etwa die Technik versagt, weil Aschepartikel den Flugbetrieb eines halben Kontinents lahm legen und die Reisenden gezwungen werden, irgendwo, vielleicht in London, einen längeren Zwischenstopp einzulegen? Es könnte für die Reisenden ein "panischer" Aufenthalt werden, denn Pan, der bocksfüßige Hirtengott aus der griechischen Mythologie, schützt nicht nur die Viehherden, sondern er schreckt sie zuweilen auch auf. Inmitten der mittäglichen Stille versetzt er alle Lebewesen in "Panik", ein Zustand, in dem für die Betroffenen "alles und nichts" aufleuchtet. Tatsächlich liegt im Begriff des panischen Schreckens jene Zweideutigkeit, wonach nicht nur "alle" Lebewesen aufgeschreckt werden, sondern "alles" zum Objekt des Schreckens werden kann. Auch für die Ich-Erzählerin im Roman Panischer Frühling von Gertrud Leutenegger wird die erzwungene Flugpause zu einer "panischen" Angelegenheit.

Die Erzählerin sieht im Fernsehen täglich die Aschewolken des isländischen Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull, dessen Eruptionen das Räderwerk der Zivilisation ins Trudeln bringen. Nordeuropa versinkt in einem Ascheregen, den man genau genommen mit menschlichen Augen kaum wahrnimmt, der sich aber verheerend gleichermaßen auf Mensch und Technik auswirkt. Es ist diese Asche, die das öffentliche Leben blockiert und stattdessen ein panisches Erzählen in Gang bringt, weil sie zum Verweilen zwingt und die Augen für das Unsichtbare öffnet. So geschieht es auch der Romanheldin, die den Zwischenstopp dazu nutzt, das frühjährliche London zu erwandern und dabei unversehens von einer zur anderen Erscheinung stolpert. So erzählt sie Geschichten aus ihrer Vergangenheit, die sich wie Aschewolken über ihr Bewusstsein legen, bis sie in jenem imaginären London versinkt, das sich ihr immer dann entzieht, wenn sie sich ihm annähert, und das Nähe suggeriert, sobald sie sich von ihm abwendet. Oder um es mit den Worten der Erzählerin zu sagen: "Allem fern sein, um allem nah zu sein". Das könnte auch das Motto dieses Romans sein.

Wenn Leuteneggers Ich-Erzählerin London erkundigt, zunächst gezwungenermaßen, bald jedoch mit großer Lust, während jene "Flugstille über Europa" herrscht, so zieht es sie immer wieder zurück zur Themse, deren Wasserstände, "Low Water" und "High Water", dem Roman eine vordergründige Kapitelstruktur verleihen. Während die Erzählerin mit jedem Tag immer tiefer eintaucht in ihre eigene Vergangenheit, die sie Schritt für Schritt wiedergewinnt, werden die Wahrnehmungen der Metropole zu poetischen Anlässen, zu Epiphanien der komplexen urbanen Realität.

Eines Tages begegnet sie Jonathan, einem Obdachlosen, dem anderen Geschichtenerzähler dieses Romans, und beide springen unvermittelt in immer neue Erinnerungsschleifen, begleiten sich gegenseitig auf ihren Reisen in die eigene Vergangenheit, was wie ein Wettbewerb der Fantasie anmutet, als könnten sie das Unmögliche möglich machen: Eins zu werden durch eine geteilte Phantasie. Jonathan, dem ein Feuermal das Gesicht entstellt, haust irgendwo in der Nähe der London Bridge und erweist sich als kongenialer Gegenpart, mit dem die Erzählerin die Räume ihrer Imagination erkundet, während sie in einem immer unwirklicher werdenden London umherirrt. Ihre Erinnerungen wabern im Dämmerzustand ihres Bewusstseins, etwa wenn das "Waldzimmer" im Pfarrhof des Onkels, auf dem die Erzählerin als Kind ihre Sommerferien verbrachte, zwischen den Gebäuden und Straßenzügen des Londoner East End wiederersteht.

Oder wenn die Wellenbewegungen der Themse zum vertrauten Geräusch der Lindenblüten aus der Kindheit werden oder plötzlich die alte Schleiereule mit ihrem weißen Gefieder auftaucht oder irgendeine belanglose Straßenecke zum längst vergessenen Guckloch in der Fahnenkammer im Haus der Kindheit wird. Das eigentliche Wunder aber sind nicht all diese Erscheinungen, sondern die Kommunion der beiden Erzähler, die Hand in Hand ihre gemeinsamen Erinnerungsräume durchschreiten. Denn auch Jonathan evoziert mit seinen Erzählungen die eigene Kindheit in Penzance, einer kleinen Stadt an der Küste Cornwalls, wo er nach dem Tod des Vaters bei seiner Großmutter lebte, die den Gezeichneten vor den anderen Kindern schütze. Im Gegenzug erzählt die Protagonistin von den kunstvollen Tapeten auf dem Hof des Onkels, dem Guckloch über dem Zimmer der Tante oder den panischen Schreien der Nachbarin um die Mittagszeit. So wird der Austausch mit dem Obdachlosen für sie immer mehr zu einer glücklichen Fügung.

Zweifellos, es ist eine Utopie, die Leutenegger hier entwirft: Die Idee eines gemeinsamen Erzählens, bei dem die Erzählstränge und Episoden wild ineinandergreifen, wodurch in jenem "labyrinthischen Durcheinander" Jonathan ebenso Teil der Geschichten des Waldzimmers wird, wie die Ich-Erzählerin ihrerseits ihren Fuß in die Welt jenes vergangenen Cornwalls von Jonathan setzt. Doch als der Obdachlose verschollen ist, wird ihr schlagartig klar, wie sehr sie auf ihn, den Zuhörer und Geschichtenerzähler, angewiesen war, denn ohne ihn vermag sie nicht mehr zurückzutauchen in ihre verloren geglaubte Kindheit: "Selbst das Sommerhaus entglitt mir wieder ohne ihn." So fügt Leuteneggers unaufgeregte Erzählkunst verschiedene "Fragmente einer Lebenslandschaft" zu einem versöhnlichen Bild der Existenz: "Sein verschwenderisches Erzählen hatte eine solche Weite des Vertrauens geschaffen, in der ich mich nicht nur zugelassen, sondern sogar aufgenommen fühlte. Nie wie in solchen Augenblicken werden, wenigstens für kurze Zeit, die Gespenster der Welt beschwichtigt."

Gertrud Leuteneggers Roman handelt nicht von Kindheitserinnerungen. Es ist ein Buch über die metropolische Existenz. Vor allem aber tritt Leutenegger den Beweis an, dass es dafür keiner ausufernden Bestandsaufnahme der überkomplexen Synchronität des urbanen Lebens bedarf. Im Gegenteil, diese Autorin vermag mit wenigen Worten die Substanz einer Großstadt zu entwerfen. Dabei ist ihre Sprache präzise und unprätentiös, ihre Erzählweise leicht und rhythmisch. Leuteneggers Stadtbilder besitzen eine ausgesprochen feine Körnung. Sie tragen dazu bei, dass man verstehen lernt, welche Wirklichkeitsschichten hinter den Vernetzungen, Motiven und Bezügen der großstädtischen Existenzform liegen. Panischer Frühling ist ein Roman, den man immer wieder aufschlagen sollte, weil er tatsächlich ein "verstörend leuchtendes Geheimnis der Welt" verbirgt.


Jo Balle - 2. Juni 2014
ID 7873
Gertrud Leutenegger | Panischer Frühling
Gebunden, 221 Seiten
D: 19,95 € | A: 20,60 € | CH: 28,50 sFr
Suhrkamp Verlag, 2014
ISBN 978-3-518-42421-6



Siehe auch:
http://www.suhrkamp.de/buecher/panischer_fruehling-gertrud_leutenegger_42421.html


Post an Dr. Johannes Balle



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