Bernhard Pörksen/Hanne Detel - "Der entfesselte Skandal - Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter"
Herbert von Halem Verlag, Köln ISBN 9783869620589
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Vorsicht, Lawinengefahr!
Im Internet ausgelöste Skandale sind unkontrollierbar, wie ein neues Buch an zahlreichen Beispielen nachweist.
Eine junge Frau gibt in einer schwachen Minute törichtes, zynisches Gebrabbel von sich. Ein Mann beschimpft cholerisch einen Mitreisenden im Bus. Zwei Angestellte einer öffentlichen Behörde tratschen über ihr Liebesleben. Sind dies nicht alltägliche, banale, private Vorkommnisse und insofern alles KEINE Themen für die Öffentlichkeit? Es war einmal! Denn ebenso wie andere, politisch wahrhaftig brisante Fälle, die zum Rücktritt eines Bundespräsidenten (Horst Köhler) und eines Bundesverteidigungsministers (Theodor zu Guttenberg) führten, wurden auch diese Ereignisse über das Internet ausgelöst, kolportiert und dadurch zur Nachricht, ja, zum Skandal. Den zynischen Kommentar über Tausende von Erdbebenopfern ließ eine junge Chinesin im Internetcafé von ihrer Webcam aufzeichnen. Die Schimpftirade eines Hongkonger Businsassen filmte ein anderer Passagier heimlich mit seiner Handy-Kamera und lud es auf YouTube hoch. Und die vertraulichen Emails flottierten durch einen falschen Tastendruck versehentlich nicht nur zwischen zwei Kolleginnen, sondern durch die gesamte Behörde, von wo aus es alsbald im World-Wide-Web landete.
Die unerwartete oder aus Naivität oder Ungeschick vollzogene Übertragung privater Äußerungen in die öffentliche Sphäre des Internets löste bei zehntausenden von Nutzern Schadenfreude, Stürme der Entrüstung oder gar hasserfüllte Aufrufe zur Selbstjustiz aus. Bis dahin gänzlich unbekannte Personen wurden unfreiwillig zu Protagonisten einer jeweils rasant anschwellenden, hysterischen Debatte, die ihr Leben wohlmöglich dramatischer beeinflusste als das von Köhler oder Guttenberg.
Der Medienwissenschaftler Berhard Pörksen von der Eberhard Karls Universität in Tübingen zieht daraus den Schluss, dass die Regeln für das Entstehen und Vergehen eines Skandals, die aus der Ära traditioneller Massenmedien stammen, im digitalen Zeitalter nicht mehr gelten: Dadurch, dass „die entsprechenden Instrumente und Technologien, um Normverletzungen zu recherchieren, umfassend zu dokumentieren, sie schließlich – eventuell mit weltweitem Echo – zu publizieren“, in Form von Smartphones und Webblogs „in den Händen aller liegen“, kann potentiell auch jeder Online-, Handy- oder Digitalkamera-Nutzer dazu beitragen, Skandale aufzudecken, zu verbreiten – oder gar zu kreieren, lautet die Diagnose von örksen, die er zusammen mit seiner Ko-Autorin Hanne Detel im Buch Der entfesselte Skandal anhand vieler berüchtigter wie auch weniger bekannter Beispiele dokumentiert.
Die vom kanadischen Medienphilosophen Marshall McLuhan schon in den sechziger Jahren aufgestellte These, dass die technologischen Grundlagen die Inhalte des Mediums bestimmen (The medium ist the message) und nicht umgekehrt, bestätigt sich auch im digitalen Zeitalter: Das Medium Internet erlaubt die anonyme Vermittlung von Informationen – und Anonymität enthemmt, stellt Bernhard Pörksen in Hinblick auf die online wellenartig verbreiteten Verbalattacken, die so genannten „Shitstorms“, fest: „Sie dokumentieren eine vergleichsweise risikolose Aggressionsabfuhr eines Cybermobs“, denn die Angreifer „müssen ihre eigene Identität nicht offenbaren und im Real Life keine Verantwortung übernehmen.“ Im Gegensatz zu einer „nuancenreichen und empathischeren Kommunikation“ seien die „Ad-hoc-Einlassungen“ in Emails, auf Portalen und Blogs „umgangssprachlich eingefärbt“ und von „konzeptioneller Mündlichkeit, die aber faktisch doch schriftlich zementiert wird – und mit einem Mal öffentlich für Aufregung sorgt“, schreiben Pörksen und Detel. Dabei gilt: „Interessantheit dominiert Relevanz“ und „Masse schlägt Inhalt.“
Die Mechanismen der traditionellen Skandalisierung entziehen sich neuerdings nahezu jeder Kontrolle – weder durch die Verursacher, noch durch die Kolporteure des Skandals. Wer statt Tonnen von Papier heutzutage nur noch eine einzelne Email zu schicken braucht, „um eine Weltmacht in Bedrängnis zu bringen“, heißt es im Buch über den irakischen Bilderskandal, der muss auch damit rechnen, selbst „vom Jäger zum Gejagten“ zu werden, wie der Aufstieg und Fall des Erfinders der Enthüllungswebpage WikiLeaks, Julian Assange, anschaulich zeigt.
Aber auch ein Skandalmanagement mit einer Mischung aus Abwarten, Verleugnen und Abschwächen, das aus jenen Tagen stammt, als noch wenige Zeitungen und Nachrichtensendungen die Themenhoheit bestimmten und nach einer Weile ihr Pulver verschossen hatten, greift nicht mehr, wie der Fall Theodor zu Guttenberg gezeigt hat: Tatsächliche, aber eben nur vermeintliche Skandale, die früher durch einen klaren Orts- und Zeitbezug in gedruckter Form nur eine begrenzte Reichweite besaßen, schwirren heute als Texte und Bilder im globalen digitalen Orbit umher wie Weltraumschrott, der nicht vergehen will: „Fatal aus Sicht der Betroffenen: Daten und Dokumente werden dauerhaft fixiert, das vermeintlich Flüchtige bleibt bestehen – und wird zum leicht erneuerbaren Skandalisierungsanlass für ein distanziert rezipierendes Publikum“, schreibt Pörksen.
Eskalation nach dem Schneeball-Prinzip, Entzeitlichung, Unkontrollierbarkeit – was die Autoren über zeitgenössische Skandale schreiben, ist nicht neu, aber in dieser detaillierten Bündelung bisher noch nicht publiziert worden. Die Schlussfolgerungen sind weniger medienwissenschaftliche Analyse als vielmehr ein flott lesbarer Essay.
Max-Peter Heyne - 17. Juni 2012 (2) ID 6036
Bernhard Pörksen/Hanne Detel, Der entfesselte Skandal - Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter
Herbert von Halem Verlag, Köln
247 Seiten
€ 19,80
ISBN 3869620587
Siehe auch:
http://www.halem-verlag.de/2012/der-entfesselte-skandal/
Vorlesung von Pörksen zum Buch unter http://archiv.re-publica.de/2012/03/23/der-entfesselte-skandal/
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