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UNSERE NEUE GESCHICHTE (Teil 42)

„Die Anarchie

der Liebe“





Bewertung:    



Wegen dir bin ich hier ist ein liebevoll und kostbar aufgemachtes Sachbuch, in dem Markus Wipperfürth von seinen Erfahrungen als Helfer nach der Flutkatastrophe im Ahrtal am 14./15. Juli 2021 berichtet. Er ist Agrarwissenschaftler, Landwirt, Lohnunternehmer und vieles mehr und erreichte schon vorher durch seine Videos auf Facebook Aufmerksamkeit. Als Kritiker vieler landwirtschaftlicher Verordnungen der EU beschrieb und beschreibt er auf diesem Weg die negativen Auswirkungen dieser Bestimmungen für die Bauern und will dem unverdient schlechten Ruf dieser Berufsgruppe entgegenwirken. Als er die Not und ausbleibende Hilfe von behördlicher Seite im Ahrtal mitbekam, nutzte er seine Reichweite, um die Lage vor Ort aus erster Hand zu schildern und freiwillige Fachleute zu mobilisieren, viele davon Kollegen, die mit ihren Traktoren, Mulden und anderen Gerätschaften anrückten. In vielen Video-Interviews gab er später Betroffenen und Helfern eine Stimme und schuf ein multimediales Tagebuch einer Katastrophenbewältigung, in dem QR-Codes von mehr als 150 seiner Videos abgedruckt sind. Den Satz "Wegen dir bin ich hier." hat er in den Folgemonaten sehr oft gehört.

Barbara Hörter-Todt ist für die Gestaltung und Michaela Rietz für die Illustration des Buches zu würdigen. Allen voran hat die freie Journalistin und Flutreporterin Sandra Fischer die Gespräche mit Wipperfürth so eingehend präsentiert, dass sie spannend wie ein Krimi zu lesen sind; nur dass alles real war.

*

Die Helfer setzten sich unwägbaren Gefahren aus. Es wurden Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg angeschwemmt, Gasflaschen schwammen herum, die explodieren könnten, fehlende Gullydeckel unter der Matschschicht könnten zu tödlichen Fallen werden; Benzin, Heizöl, Unmengen von Alkohol von zerborstenen Weinfässern, Chemikalien und Fäkalien aus den zerstörten Kläranlagen vereinten sich zu einer übel riechenden Mischung, die bis zu drei Metern hoch war und fast überall hin eingedrungen ist. Wipperfürth nennt es „das kleine Wunder des Ahrtals“ (S. 45), dass es bei den lebensgefährlichen Arbeiten keine schlimmen Unfälle gegeben hat. Es entstand eine Mückenplage, doch das Schlimmste waren die Funde von Leichen und Leichenteilen. Darauf war keiner vorbereitet, dafür waren die Helfer nicht ausgebildet. Am Ende waren nicht nur die Betroffenen der Flut, sondern auch einige Helfer „gezeichnet von einer Nacht, die Tausende Menschen noch Jahrzehnte begleiten wird“ (S.13).)

Doch die Not der Menschen trieb sie an, sie alle mussten ohne Elektrizität, Internet, Wasser, Toiletten, Duschen, Sanitätern und jegliche Art von Grundversorgung ausharren, die von ehrenamtlichen Mitbürgern nach und nach erst aufgebaut werden musste. Die Leistung der Helfer wurde von offizieller Seite aber kaum gewürdigt, im Gegenteil:


„In der Retrospektive scheinen mache Politiker und Offizielle das gnadenlose Versagen der ersten Tage und Wochen gerne zu vergessen, diskreditieren jeden, der die teils geradezu grotesken Fehlentscheidungen der Blaulicht-Obrigkeiten kritisiert, schmälern dabei die unbezahlbare und unersetzbare Hilfe, die jene Helfer der ersten Stunden für die Menschen im Ahrtal geleistet haben.“ (S. 46)


Dieses Buch enthält durch die QR-Codes zu den Videos Beweise, dass die Aussagen von Markus Wipperfürth, seinen Mitstreitern Wilhelm Hartmann, Christian Lohmeyer, Anthony Lee und vielen mehr zutreffend sind und als Live-Aufnahmen dokumentarischen Wert besitzen. 99 Prozent der Ersthilfe wurden nach seinen Angaben von freiwilligen Bürgern und Bürgerinnen verrichtet, inklusive Wipperfürths eingehende Berichterstattung, die Aufgabe der Medien gewesen wäre. So entstand „die wahrscheinlich stärkste Gemeinschaft von ganz Deutschland“ (S. 10).

Unverständlich bleibt, dass am nahegelegenen Nürburgring Einsatzwagen und -kräfte längere Zeit zugegen waren, bis sie unverrichteter Dinge wieder abzogen. THW, Feuerwehr etc., alle waren in unmittelbarer Nähe. Die Fassungslosigkeit war groß. - Eine solche Verständnislosigkeit entstand auch, als der Unternehmer Marcus Zintel aufgeben musste. Er hatte 95 Meter weggebrochene Bundesstraße von Walporzheim Richtung östliches Ahrtal wieder aufgebaut, und zwar so, dass sie auch für Schwertransporte geeignet sein würde, damit abgelegenere Ortschaften besser erreichbar wären. Die Arbeit verrichtete er ehrenamtlich mit Hilfe der Bundeswehr, aber die Behörden wollten die entstandenen Kosten nicht übernehmen. So musste er aus reinem Selbsterhaltungstrieb zur Vermeidung einer Insolvenz den Heimweg antreten. Das wurde auf den letzten Drücker dann doch verhindert.

Marcus Zintel ist auch der Namensgeber der fiktiven Fischzüchtung Zintling, des Marcus Baggeritus Zintlikus. Das kam so: Er war beschäftigt, die Ahr von Baumstämmen, abgebrochenen Brückenteilen und Unrat zur Verringerung künftiger Überschwemmungen zu befreien, als dann doch eine Behörde tätig wurde. Zintel wurde die Weiterarbeit verboten, weil er mit seinen Baggern und Maschinen die Fische gefährde. Die hätten in dem kontaminierten Gemisch keine große Überlebenschance gehabt, aber sie waren dem Amt wichtiger als die Menschen und deren Existenzgrundlagen. Doch die Helfer ließen sich angesichts dieser Ungeheuerlichkeit nicht unterkriegen. Aus Hufeisen schmiedeten Handwerker und Künstler Fische mit Kettenrädern an der Unterseite, es gab fiktive Fischkonserven mit der Aufschrift „Zarter Zintling vom Bagger erlegt in feinem Heizöl“ sowie weitere kreative Schöpfungen, mit denen man sich angesichts der teils abstrusen behördlichen Aktivitäten Luft verschaffte. Der Zintling entwickelte seitdem ein Eigenleben..

Markus Wipperfürth versteht sich als Teil eines großen Teams und hat sich deswegen immer um Zusammenarbeit mit den Behörden und Organisationen bemüht, die teilweise auch geklappt hat. Er ist in seiner Kritik sehr differenziert und kann alles belegen. Die örtlichen Behörden waren teilweise selbst betroffen und konnten aufgrund der fehlenden Infrastruktur und Kommunikationsmöglichkeiten kaum handeln. Sehr lange haben die Ahrtaler darauf gewartet, dass ein übergeordneter staatlicher Rettungsplan greifen würde (S. 139), der aber ausblieb. Das lag nicht an den Feuerwehren, der Bundeswehr, der Polizei, dem THW und anderen, die ohne Einsatzbefehl nicht agieren dürfen, von denen aber einige Mitarbeiter als Privatpersonen helfen kamen. Es ist möglich, dass im Hinblick auf die derzeitige Energiekrise und andere Bedrohungen eine Notlage eintreten könnte. Deswegen ist es wichtig alles zur Sprache zu bringen, weil jetzt noch Vorsorgemaßnahmen für die Zukunft getroffen werden könnten.

So wurden zwei parallele Welten erkennbar, die eigentlich keine gemeinsame Schnittmenge haben. Durch den Druck von Wipperfürth, seinen Mitstreitern und Followern kam es dann doch zur partiellen Zusammenarbeit. Das Buch deckt im Wesentlichen nur die ersten Wochen ab. Nicht enthalten ist z.B. der Helfer-Shuttle, eine Internetplattform, die Helfer und Betroffene bis heute miteinander vernetzt. Wichtig waren noch das Baustoffzelt, die größeren Versorgungsstationen und das Container-Dorf, die nach und nach aufgebaut wurden und beispielhaft für künftige Pläne zur Katastrophenbewältigung sind. Insgesamt sind durch unbezahlte Arbeit, Geld- und Sachspenden Millionenwerte ins Ahrtal geflossen. Wipperfürth sagt auch klar, dass die staatlichen Stellen das nicht alleine hätten bewältigen können, allein weil sie nicht über die Maschinen verfügen, die z.B. in engen Gassen, Garagen und in den Weinbergen hätten rangieren können. Diese Erfahrungen und Gerätschaften hatten überwiegend Landwirte und Bauunternehmer. Unter den Helfern und Helferinnen ist eine Solidarität entstanden, die Wipperfürth „die Anarchie der Liebe“ nennt: „abseits aller urdeutschen Strukturen lassen wir unserer Kreativität freien Lauf, improvisieren, arbeiten mit dem, was die Ausnahmesituation uns gibt“. (S. 197).

Dies sind nur ein paar Schlaglichter auf den Inhalt des reichhaltigen Buches. Mit dem Ahrtal waren auch viele andere Orte von der Flut betroffen, zu einigen hat Wipperfürth auch einen Teil seiner landwirtschaftlichen Maschinen und Mitarbeiter geschickt. Auch wenn die Lage dort nicht so umfassend dokumentiert ist, sind die Betroffenen und die Schar von Helfern und Helferinnen genauso wichtig wie die im Ahrtal.

„Als Teil eines großen Ganzen, als Rad in einem komplexen Uhrwerk stehe ich für viele Tausende, die nicht nur den betroffenen Menschen im Ahrtal Hilfe und Hoffnung gegeben haben, sondern einer ganzen Nation den Glauben an die Menschheit, an das fundamental Gute im Homo sapiens“, erklärt Wipperfürth abschließend.


Helga Fitzner - 5. November 2022
ID 13896
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