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„Ich war in den Jahren der schlimmen Aids-Panik aufgewachsen, als sexuelles Begehren und Krankheit auf fundamentale Weise miteinander verbunden schienen, nichts, was man steuern und beeinflussen könnte, sondern etwas unabänderlich Verknüpftes, Ursache und Wirkung. Dort, wo ich herkam, handelte jede Geschichte über Männer wie mich von Krankheit; mein Leben war ein moralisches Lehrstück, in dem es allein um Keuschheit oder Verdammnis gehen konnte. Vielleicht suchte ich deshalb, als ich endlich Sex hatte, weniger die Lust als den Rausch überwundener Hemmungen und Ängste, den Kitzel des Loslassens, der so stark war, dass er fast suizidal wurde.“ (Garth Greenwell, Was zu dir gehört, S. 157)

*

Scham, schwules Begehren und käuflicher Sex spielen im einfühlsamen, bewegenden und über weite Strecken ergreifenden Debütroman Was zu dir gehört (2018; Orig.: What belongs to you, 2016) vom Amerikaner Garth Greenwell eine große Rolle. Die in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens, angelegte Handlung ist autobiographisch eingefärbt. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler unterrichtet am American College of Sofia, wo auch der Autor Greenwell einige Jahre unterrichtete. Zu Beginn des Romans ist der Erzähler (wie der Autor ein Amerikaner) auf den öffentlichen Toiletten des Kulturpalasts auf der Suche nach Sex. Beim Cruising trifft er auf Mitko, einen gutaussehenden, jungen Mann, der bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Er bezahlt ihn vor Ort für körperliche Nähe und trifft ihn in den Wochen danach immer wieder. Bald lädt er Mitko zu sich nach Hause ein. Der Erzähler muss erkennen, dass sich Mitko nicht körperlich zu ihm hingezogen fühlt. Trotzdem klopft Mitko immer wieder bei ihm an. Dann klagt er stets über finanzielle Nöte, die der Erzähler alsbald aus dem Weg zu räumen vermag. Der Erzähler lässt sich die körperliche Nähe zum Objekt seiner Begierde gerne etwas kosten. Die fortwährenden Nöte Mitkos, der keine beruflichen Perspektiven und kein Zuhause hat, lassen ihn nicht kalt:


„Aber obwohl ich ihn noch fester an mich drückte, als er dort lag und weinte, blieb der Graben, der sich zwischen uns geöffnet hatte, bestehen, und ich wusste, dass ich auf meiner Seite bleiben würde…“ (S. 226)


Der Erzähler geht ein kompliziertes Abhängigkeitsverhältnis ein, das stets zerbrechlich und von kurzer Dauer ist. Immer wieder konfrontiert Mitko ihn mit seiner Austauschbarkeit, wenn er etwa in dessen Wohnung online geflissentlich mit anderen Freiern chattet. Obwohl der Collegelehrer der Beziehung keine Zukunft einräumt, erkennt er bald, dass er sich stets sexuell nach Mitkos Nähe sehnt. Erst als Mitko ihn offen bedroht, findet er die Kraft ihn fortzuschicken. Der Trennungsschmerz bringt ihn dazu, über sein eigenes Selbstverständnis als schwuler Mann nachzudenken. Er erinnert sich an Familienangehörige, die er verlassen hat, um als Lehrer im fernen Bulgarien zu unterrichten. Er vergegenwärtigt sich die radikale Ablehnung seines Vaters, als er als Jugendlicher ihm seine Homosexualität eingestand:


„Ich weinte immer noch, aber meine Tränen waren nicht mehr Ausdruck von Schock, oder Kummer, sondern von Zorn, ja Furor, und dieser Furor erfüllte mich mit etwas, das sich nicht mehr auflösen sollte. Was wäre ich ohne diesen Zorn, fragte ich mich, während ich über das Wasser schaute, jenen Zorn, den ich immer noch in mir trage, der mal aufwallt und mal schwächer wird, aber immer da ist; was immer er mir im Leben verwehrt hat, ohne ihn hätte ich mich verloren.“ (S. 131)


Den Zorn, den der Erzähler bei sich als elementares Grundgefühl und als Kraft wahrnimmt, glaubt er bei Mitko wiederzufinden. Immer wieder geht der Erzähler sensibel und unterwürfig mit offenen Provokationen Mitkos um. Aufgrund der Erfahrungen als Collegelehrer weiß er um die ausgeprägte Perspektivlosigkeit für junge Menschen in Bulgarien, das als klassisches Auswandererland gilt. Doch bald stellt sich die Frage, wieoft und wie selbstlos anteilnehmend und kräftezehrend er Mitko noch aufzufangen bereit ist.

Das aufregende Debüt des 1978 geborenen Greenwell wurde mit dem British Book Award for Debut of the Year ausgezeichnet und für zahlreiche weitere Auszeichnungen nominiert. Der ergreifende Roman schöpft seine Intensität auch aus einem ausgeprägten Sinn für Poesie, den der namenlose Ich-Erzähler auch selbst zum Thema macht:


„Ich hatte immer gedacht, das Schreiben eines Gedichts wäre eine Form der Liebe für einen Gegenstand, die Möglichkeit, etwas zu bewahren oder zweimal zu erleben oder mehr noch: eine Art, erfüllter zu leben und Erfahrungen einen komplexeren Sinn zu verleihen. Aber so fühlte es sich nicht an, als ich an das künftige Gedicht dachte und mich ein letztes Mal nach dem Jungen umdrehte, vielmehr spürte ich einen Verlust. Was immer ich über ihn schriebe, es würde ihn reduzieren, und ich fragte mich, ob ich mit meiner Lyrik den Dingen nicht eher den Rücken zudrehte, ob ich die Welt, anstatt sie zu bewahren, nicht in Wirklichkeit hinter mir ließ.“ (S. 216)


Ansgar Skoda - 3. März 2018
ID 10567
Buch-Link: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/was-zu-dir-gehoert/978-3-446-25852-5/


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