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„Romane zu lesen, bedeutet die Bereitschaft, in die komplexen Realitäten anderer Leben einzutauchen. Es bedeutet, neugierig und bereit zu sein, sich auf eine Form von Pluralismus einzulassen. Für mich sind die besten Romane diejenigen, die mich dazu bringen, verständnisvoll unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.
Lesen heißt, sich jemand anderem zu überlassen, das eigene Bewusstsein eine Zeit lang mit einem erzählenden anderen oder mehreren anderen zu teilen.“

(Siri Hustvedt, Mütter, Väter und Täter, S. 176)


*

Als Leser fühlt man sich von Siri Hustvedt sehr wertgeschätzt. Die Autorin, selbst belesen, konturiert in einem Essay über die Zukunft der Literatur den Leseprozess selbst. Hier wirft die US-amerikanische Schriftstellerin ihrem wenig belesenen Landesgenossen Donald Trump, angesichts einer bemerkenswerten Abwesenheit von Literatur im Alltag des Milliardärs, Antiintellektualismus vor. Aufgrund eines extremen Narzissmus schlage er so stets „alte populistische Töne an“ (Ebd.). Heute blickt die Weltgemeinschaft mit Sorge auf den US-Wahlkampf 2024. Joe Biden tritt im kommenden Jahr aller Voraussicht nach erneut gegen Donald Trump an. Hustvedt erklärt, Lesen bedeute stets einen Selbstverlust, ein Sich-Aufgeben und Gehenlassen. Hierzu sei Trump offensichtlich nicht bereit. Das Lesen biete stets auch Möglichkeitsräume, das Denken zu erweitern und zu beleben.

Nach ihrem vielschichtig angelegten, abwechslungsreichen Roman Die gleißende Welt (2015) und einem vielbeachteten, umfangreichen Essay über Künstliche Intelligenz, Die Illusion der Gewissheit (2018), veröffentlichte der Rowohlt Verlag zuletzt mit Mütter, Väter und Täter zwanzig Essays der Autorin zu unterschiedlichen Themen, die oft auch autobiographisch sind. Die Essays thematisieren Literatur und Literaturgeschichte, die Geschlechterverhältnisse, Mutterschaft, den Lockdown und die Hintergründe für Gewalt. Sie erschienen in den Jahren 2016 bis 2020 erstmals in Sammelbänden, Zeitungen, Online-Angeboten, Zeitschriften oder Büchern. In den ersten beiden Essays des Bandes widmet sich Hustvedt auf bewegende Weise ihrem Verhältnis zu ihrer Großmutter Tillie respektive zu ihrer Mutter.

Den Aufsätzen merkt man die Lust der Autorin am geschriebenen Wort, am Fabulieren und dem Einfühlen in Farbschattierungen an. Voller Offenheit betrachtet sie die Imagination und Traumlogik (S. 277), dann schreibt sie über das „Unbehagen der Ungewissheit“ (S. 281) und betrachtet sogleich die „Farbe meines Denkens“ (S. 281). In einer sogenannten Stilübung zu Sindbad-Variationen heißt es:


„Unser gemeinsames Leben ist eine Geschichte oder vielleicht mehr eine Sammlung von Geschichten, die wir uns über uns erzählen und dabei immer wieder umschreiben. Deine Geschichte über uns ist allerdings nicht dieselbe wie meine Geschichte über uns.“ (S. 222)


Der Essayband bietet eine ganze Schatzkammer für Bibliophile. Hustvedt erwähnt eindringliche Lebenserfahrung durch Lektüren wie „Middlemarch, Moby Dick, Nachtgewächs, Giovannis Zimmer“ (S. 175) und nennt Autorinnen wie die Britin Delarivier Manley (S. 167) oder Margaret Cavendish und Eliza Haywood (S. 174). Der Essay Er liess die Feder fallen widmet sich Jane Austens postum veröffentlichten Roman Persuasion (1817). In Das Rätsel des Lesens taucht Hustvedt hingegen auf etwa 45 Seiten ein in Wuthering Heights (1847) von Emily Brontë. Hustvedt deutet Brontës Erzählperspektive im Klassiker als „eine mystifizierende, aus widerstreitenden Stimmen konstruierte Polyphonie“ (S. 258). Dabei werde der Puls und Atem der Erzählung stets getragen von dem Lesevermögen und der emotionalen Stimmung der einzelnen Leser:


„Je rätselhafter und mehrdeutiger ein Text, umso heterogener seine Interpretationen. Jede Lesart entspinnt sich in dem Raum zwischen Text und Leser.“ (S. 247)


Auch das Werk einiger bildender Künstlerinnen betrachtet Hustvedt in ihrer Essaysammlung. So erwähnt sie das Werk der italienischen Barockmalerin Artemisia Gentileschi und setzt hier einen Bezug zu Jan Vermeer (S. 285). Sie betrachtet im Essay Sowohl/ Als auch Louise Bourgeois (1911-2010). Hustvedt meint, die französisch-US-amerikanische Bildhauerin spiele mit Erwartungen ihrer Betrachter und unterlaufe kulturelle Vorurteile, etwa in She-Fox von 1985, einem Körper aus schwarzem Marmor. Hustvedt betont ein „Tänzeln“ (S. 314), Humor und Ironie im Werk der Künstlerin, wohingegen herkömmliche Forschung zu sehr das psychoanalytische Denken im intellektuellen Gerüst des Werkes von Bourgeois betone.

Schlussendlich thematisiert der im großen und ganzen inspirierende, facettenreiche und politisch ambitionierte Band auch im hellsichtigen Essay Übersetzungsgeschichten Herausforderungen der literarischen Übersetzung (das vorliegende Werk wurde übrigens aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald übertragen, gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds):


„Manche Texte sind sehr viel schwerer zu übersetzen als andere – insbesondere die mit kulturbeladenem Witz, exzentrischer Ausdrucksweise, philosophischen Höhenflügen einer verschwommenen Figur, Wortspielen und natürlich Ironie. Trotzdem öffnet eine Übersetzungsentscheidung den Leser manchmal für Gedanken, die ihm im Original vielleicht verschlossen geblieben wären.“ (S. 185)


Hustvedt beleuchtet hier ein literarisches Berufsbild, deren Arbeit oft unter dem Radar bleibt, offen und wertschätzend, wenn sie schreibt:


„Meine eigenen Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, von denen ich die meisten nicht lesen kann. Ich kenne einige meiner Übersetzerinnen, aber vielen bin ich nie begegnet. Manche schicken mir Fragen. Andere nicht. Aber sie alle haben mich in sich aufgenommen, und sie alle haben meine Worte in ihrer Arbeit interpretiert und neu erfunden...“ (S. 188)


Ansgar Skoda - 20. Dezember 2023
ID 14533
Rowohlt-Link zu Mütter, Väter und Täter von Siri Hustvedt


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