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Roman

Kein Talent

zum Glücklich-

sein





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„Wir sind reingefallen. Eine nach der anderen. Niemand konnte das für eine andere verhindern, und inzwischen kann auch keine einer anderen beistehen. Denn nur, wer einen Ausweg weiß, darf das Elend erwähnen, nur, wer die Lösung kennt, hat das Recht, sich einzumischen. Wer im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen werfen. Wer Kinder hat, hat glücklich zu sein.“ (Anke Stelling, Schäfchen im Trockenen, S. 156)


Ist es leichtsinnig, sich trotz unbeständiger Finanzlage Kinder zu leisten? Es gibt viele arme Kinder in Deutschland. Doch was ist, wenn sie als Heranwachsende beginnen, sich mit anderen, wohlhabenderen Gleichaltrigen zu vergleichen? So manche Eltern verzweifeln, wenn sie ihren Schützlingen materiell nicht das bieten können, was diese sich wünschen. Anke Stelling, selbst Mutter dreier Kinder, veröffentlichte Schäfchen im Trockenen im unabhängigen Verbrecher-Verlag. Die 47jährige Berliner Schriftstellerin erhielt für ihren Roman 2019 überraschend den Preis der Leipziger Buchmesse.

Das etwa 300seitige Werk wird aus der Sicht der Protagonistin Resi erzählt, einer Autorin Mitte vierzig. Gemeinsam mit ihren Mann Sven, einem Künstler, hat Resi vier Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren. Die sechsköpfige Familie lebt für eine günstige Untermiete bei Freunden in einer Altbauwohnung in Berlin-Mitte. Es könnte alles sehr harmonisch sein, hätte Resi ihre wohlhabenderen Freunde und Vermieter nicht brüskiert. Sie ließ diese in einer Reportage und später als Romanfiguren in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Als Reaktion kündigen die Freunde ihr die Freundschaft und auch die Wohnung.

Im gesamten Roman kreist die Ich-Erzählerin nun im anhaltend klagenden Ton um die soziale Ungleichheit und ihr Schicksal. Sie ist schockiert und hält die Kündigung vor den übrigen Familienmitgliedern zunächst geheim. Buchstäblich kämpft sie an ihrem Schreibtisch. Sie versucht wiederholt eine passende Antwort an die Freunde zu formulieren. Problematisch ist, dass sie sehr schematisch denkt und eine Reflexionsebene weitestgehend missen lässt. Fortwährend stilisiert sie sich zum Opfer und schwelgt im Sozialneid. Als Leser erfahren wir so, dass sie nie Klavier spielen konnte, nicht Auto und auch nicht Ski fahren gelernt hat. Sie beneidet die Mitglieder ihrer früheren Clique auch um begehbare Kleiderschränke oder darum, dass diese - im Gegensatz zu ihr - einmal erben werden.

Stelling springt zwischen den Zeitebenen. So bezieht Resi in ihre Gedanken auch die Vergangenheit ihrer Mutter Marianne ein, die stets in ärmeren Verhältnissen lebte. Resi hofft aus der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter eine Weisheit ziehen zu können, die sie an die eigene Tochter weitergeben kann. Produkt dieser Hoffnung ist dann das vorliegende Buch. So beginnt Schäfchen im Trockenen gleich mit dem Ansinnen, dem ältesten Kind Bea etwas mit auf den weiteren Lebensweg zu geben. Doch der Bericht dürfte einer Tochter wohl kaum eine sinnreiche Vorbereitung auf das Leben bieten.

Auffallend ist, dass Resi nur wenig Freude an ihren eigenen Kindern hat. Positive Momente werden regelmäßig durch etwas Negatives zersetzt und aufgewogen. Diese Ambivalenz begreift die Protagonistin als Lebenskunst. Resi gefällt sich in der selbstgerechten Rolle des Opfers. Sie bewertet alle moralisch und erhöht sich dabei selbst. Mit ihrer enervierenden moralischen Selbstgefälligkeit, in der sie sich stets eine Deutungshoheit zubilligt, meint sie über den Mitgliedern ihrer früheren Clique zu stehen. Dabei verlässt die Ich-Erzählerin nie den Teufelskreis ihrer verqueren Gedankenwelten. Warum agiert Resi nicht praktisch und ruft den Vermieter an? Sie könnte abklären, ob und zu welchen Kosten sie die Wohnung übernehmen könnten? Immerhin erhält sie doch für ihre Kinder sogenannte Leistungen für Bildung und Teilhabe (s. S. 257) und später – wie die Autorin im wirklichen Leben – einen hochdotierten Literaturpreis. Leider ist nicht erkennbar, was Anke Stelling mit der Haltung der Resi, die gerade durch ihren Neid kleiner wird als durch ihre Armut, ausdrücken möchte. Beim Lesen kommt der Verdacht auf, dass hier die Autorin bloß eigene Sichtweisen replizieren könnte.

Stelling zeichnet viele klischeereiche Bilder von Armut (z.B. S. 115). Gegen Ende uriniert Resi sogar nachmittags auf der Friedrichstraße. Sie hat dann wohl alle Scham abgelegt. Schließlich driftet der Roman sogar ein bisschen ins Irreale ab und entwirft alternative Enden. Es gibt viel moralische Hybris, keine Einsichten und keine Kompromisse. Dabei war doch zu Anfang noch so etwas wie ein Geistesblitz:


„Keiner wollte sich mehr schämen müssen angesichts ungerechter Verteilung, aber ohne Um- und Neuverteilung blieb nur der Ausweg, das Augenmerk auf die Idee der Schicksalsschmiede, das persönliche Versagen und ungeschickter Einzelentscheidungen zu lenken. Für mich galt: Ich hätte mitmachen können. Jura studieren. Einen Erben heiraten. Ingmars Geld annehmen. Ohne Geld stolz und glücklich sein und weiterhin alles selbst machen, die Ungleichheit zumindest mit mir selbst abmachen, anstatt unnötig und willkürlich Aufmerksamkeit zu erregen.“ (S. 94)


Ansgar Skoda - 13. Juli 2019
ID 11562
Link zu den Schäfchen im Trockenen


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