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„Zwei Kinder gegen das Erbe dieses Landes. Unsere Karten standen schlecht, wir spielten trotzdem.“ (Sabrina Janesch, Sibir, S. 44)

*

Im Zuge des russischen Angriffskrieges kommen hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine auch nach Deutschland. Der Ukraine-Krieg dauert an. Sabrina Janesch erzählt in Sibir, die russische Bezeichnung für Sibirien, über das Fehlen von Geborgenheit, Russland, über Menschlichkeit und über eine Willkommenskultur. Die raue Steppe Sibiriens war Schicksalsort hunderttausender Nachkriegsdeportierter um 1945/46. Die Großlandschaft im nördlichen Asien beherbergt auch den Norden von Kasachstan, wo ein großer Teil der Erzählzeit von Janeschs Aussiedler-Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg spielt. Es geht um das Gefühl der Heimatlosigkeit der Vielzahl deutscher Zivilisten, die 1945 von der Sowjetarmee mit dem Ziel Kasachstan verschleppt wurden:


„Und wir? Zehn Jahre Kasachstan, aber die hatten sich für immer in die Biographien unserer Familien eingeschrieben, hatten sie geformt, ausgedünnt, beschnitten und gezeichnet. Was weder Pascha noch sonst einer der Neuankömmlinge wusste, war, dass auch die Aussiedler nicht einer Art Kernland entstammten, dass auch sie im Osten gesiedelt hatten, in Gebieten, die heute in der Ukraine liegen. Die Ukraine, das war der Rand Europas – die Wolga der Rand der Welt.“ (S. 203)


Der zehnjährige Josef Ambacher wird mit seiner Familie 1945 von der Roten Armee aus dem nunmehr polnischen Galizien verschleppt. Er und seine Angehörigen dürfen kein Deutsch mehr sprechen, können wegen Kleinigkeiten verhaftet werden, verspüren Hunger. Josefs Mutter geht in einem Schneesturm verloren und gilt fortan als verschollen. Steppenwölfe suchen bald das Dorf heim.

Die deutsch-polnische Autorin Janesch orientiert sich autofiktional am Leben ihres 1942 geborenen Vaters, der ebenfalls mit seiner Familie aus Warthegau nach Sibirien verschleppt wurde und später nach Westdeutschland zog.

Janesch selbst wuchs, wie ihre Protagonistin Leila, in Niedersachsen am Rande der Lüneburger Heide auf. Zwei parallel erzählte Handlungsstränge aus unterschiedlichen Zeiten und Kinderperspektiven wechseln regelmäßig. Denn auch aus der Sicht Leilas, die mit den gleichaltrigen Arnold und Pascha aufwächst, wird in den Jahren 1990 und 1991 erzählt. In einer Siedlung im fiktiven Dorf Mühlheide errichtet Leila mit ihren Freunden geheime Hütten und Vorratslager. Die Erzählung zeigt auf, wie Leila als Nachkomme ihres Vaters – eben jener Josef Ambacher - eine Angst und Sorge verinnerlicht, irgendeine Schuld auf sich geladen zu haben:


„Noch Jahre und Jahrzehnte später war ich damit beschäftigt, die Teile des Puzzles, das die Jahre 1990 und 1991 bildeten, zusammenzuklauben. Eines der für mich entscheidenden Details war das der Scham. Pascha erwähnte mir gegenüber einmal, dass in jenen Jahren nicht wenige der Neuankömmlinge vermuteten, dass wir uns schämten. Dass unsere Eltern und Großeltern sich schämten, und zwar dafür, vierzig Jahre früher fortgelassen worden zu sein, vierzig Jahre, in denen sie in Freiheit leben durften, während die anderen, Nachkommen der Russlanddeutschen unterschiedlichster Siedlungsgebiete, noch immer in Kasachstan festgehalten wurden.“ (S. 135)


Neben stimmungsvollen Verlusterfahrungen konturiert Janesch auch ein besonderes Gemeinschaftsgefühl ihrer Figuren, die sie auch mal als „Aussiedler light“ (S. 203) bezeichnet. In feinen Nuancen und spannenden Episoden zeichnet Janesch die Gemeinschaft der Deportierten in Kasachstan als Schicksalsbund, der über Jahrzehnte gemeinsame, teils traumatische Erfahrungen miteinander teilt:


„Willkommen, Dobro poschalowatj, Kosch keldinis. Gemeinsam in der Steppe, gemeinsam im Zug nach Deutschland, gemeinsam in Friedland. Seit vielen Jahren war es das erste Mal, dass auch die Grüppchen der deutschen Zivilgefangenen wieder zusammentrafen, sich ohne Furcht nebeneinanderstellten, -setzten, -legten. Deutsch sprachen. Alle, die hier waren, hatten die Hitze überlebt, die Kälte, den Hunger. Das schweißte zusammen. Die meiste Zeit wurde so lautstark geschwiegen, dass ihnen allen die Ohren dröhnten. Nach den ersten Tagen kam man überein, zusammenbleiben zu wollen. Hatte man sich schon in Kasachstan voneinander fernhalten müssen, so würde man nun die Nähe vorziehen. Wer sonst würde begreifen oder nachvollziehen können, was sie erlebt hatten?“ (S. 205)

* *

Sibir, der fünfte Roman der heute 38-jährigen Trägerin des Anna-Seghers-Preises und des Annette-von-Droste-Hülshoff-Preises lebt von atmosphärischen Stimmungen und präzisen Beobachtungen.

Den vielfältigen Erinnerungen der Figuren wohnt neben dem Gefühl des Fremdseins jene konträre Empfindung der Verbundenheit inne. Die Charaktere lernen, dass mitunter nicht gut ist, wer besser ist als andere, sondern derjenige, der anderen hilft und andere vor eigenem erfahrenen Leid zu bewahren versucht:


„Sich seinen Platz suchen. Diese Wendung griff im Sommer 1991 in unserer Siedlung um sich, sie fiel immer dann, wenn über die Neuankömmlinge gesprochen wurde – erst leise nur und beiläufig, später immer offener. Unsere Gemeinschaft hatte nach über einem Jahr das anfängliche Trauma der Konfrontation hinter sich gebracht und wagte den Blick zurück, in eine Zeit, als ihre Mitglieder selbst Neuankömmlinge in Mülheide gewesen waren.“ (S. 204)


Ansgar Skoda - 22. Dezember 2023
ID 14536
Rowohlt-Link zum Roman Sibir


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