„...eine Salve
von Schnapp-
schüssen“
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Bewertung:
„Geh durch diese Tür oder lass es bleiben. Du wirst den Unterschied spüren. Er wird größer sein, als du dir in diesem Moment vorstellen kannst.“ (Michael Cunningham, Ein Tag im April, S. 122)
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Michael Cunninghams Oeuvre zeichnet sich durch ein innovatives Spiel mit Zeitlichkeit aus (Die Schneekönigin , 2016).
Nathan, ein zentraler Protagonist in seinem jüngstem Roman Ein Tag im April, glaubt der Ordnung der Zeit nicht mehr folgen zu können, gar zu Momentaufnahmen seiner selbst zu werden. Auch eine andere Figur, Nathans Onkel Robbie, schwelgt an einem potentiellen Wendepunkt seines Lebens in sensiblen Beobachtungen. Robbies Bewusstseinsströmungen nehmen flüchtige Details als Abbiegungen wahr. Er erkennt, dass er sich möglicherweise mit folgenschweren Entscheidungen seine Zukunft verbauen könnte.
In Ein Tag im April wechseln fortwährend die Perspektiven, doch alle Protagonisten ergehen sich in einer ganzen Bandbreite an Formen der Wirklichkeits- und Naturerfahrungen. Sie sind familiär miteinander verbunden. Nathan lebt so anfangs Tür an Tür mit seiner Mutter Isabel, seinem Vater Dan, seiner Schwester Violet und seinem Onkel Robbie. Während seine Mutter als leitende Bildredakteurin bei einem Magazin arbeitet, widmet sich sein Vater Dan der Erziehung der beiden Kinder. Als ehemaliger Leadsänger einer Band komponiert er außerdem Rocksongs, in denen er mehr oder weniger aufgeht:
„Was Dan erschaffen hat, ist ein akustischer Blumenstrauß, eine Abfolge von Mollakkorden, die überraschend in einer verminderten Septime münden. Das ist gar nicht übel. Es ist gut genug. So gut, dass Dan die Vorstellung verdrängt, er könnte der Welt ein Dutzend Gewächshausrosen anbieten statt des ursprünglich erhofften messerscharfen Eispickels, der die Oberfläche des Gewohnten zersticht und Löcher in den geordneten Ablauf der Tage reißt.“ (S. 176)
Linien expressiver Farben und vielfältiger Formen lassen sich verfolgen, während die im Zentrum des Geschehens stehenden Figuren sich mit existentiellen Fragen oder Sinnsuchen konfrontieren. Kunstvoll entfaltet Cunningham persönliche Geschichten und Schicksale und fokussiert gemeinsame Erlebnisse, Momente und Freundschaften.
Wie schon in seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman The Hours (1999) beschränkt sich die erzählte Zeit in Day (so der Titel der 2024 erstmals erschienen Originalausgabe) auf einen Tag. Das Erzählte spielt an einem 5. April, jedoch in unterschiedlichen Jahren. Der erste Teil des Buches widmet sich dem Vormittag am 5. April 2019, der zweite Teil dem Nachmittag am 5. April 2020 und der Schluss spielt an einem Abend am 5. April 2021. Der Roman zieht einen Großteil seiner Spannung aus dramatischen innerfamiliären Wendungen im Verlauf der drei Jahre.
Obwohl die Protagonisten sich gegenseitig liebevoll zugewandt beobachten, erweisen sich Fragen von Zugehörigkeit als auch die Gemeinschaft als zerbrechlich. Die Suche nach Gefühlen von Nähe und Gemeinsamkeiten muten am Beispiel einer Mutter-Kind-Bindung am unproblematischsten an: Chess genießt als Mutter des Kleinkinds Odin ein bisschen mit ihm die Unaufgeregtheit der Coronazeit ohne persönliche Kontakte:
„So verstreichen in ihrer kleinen, abgekapselten Welt die Tage. In gewisser Hinsicht ist auch Chess wieder siebzehn Monate alt, so wie Odin. Sie kann seine Vorliebe für das Wiederkehrende verstehen, weil es dem Gesang von Mönchen und Nonnen ähnelt; das Gebet wird so oft wiederholt, bis es zu einer ungesteuerten Körperfunktion geworden ist, ähnlich wie die Atmung oder der Herzschlag.“ (S. 189)
Der von Eva Bonné eindrücklich nun aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzte Roman erhielt 2024 den italienischen Literaturpreis Premio Gregor von Rezzori der Stadt Florenz. Das Werk schwächelt leider trotzdem mitunter, wenn Aberglaube-Nonsense unhinterfragt wiedergegeben wird oder dem Eigenleben eines fiktiven Social Media-Fakeaccount, Wolfe_man, bald eine gehobene Bedeutung zukommt. Robbie und später auch Isabel reflektieren hier über die Plattform Instagram die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Körpers und loten über einen digitalen Avatar kreative Prozesse des Wahrnehmens und verborgene Wünsche aus. Schlussendlich bleiben jedoch eher Annäherungen an mögliche Abgründe der Schuld und vieldeutige Fragen von Leben und Tod in Erinnerung, wenn etwa Isabel gedankenverloren in sich ruhend über einen Friedhof schreitet:
„Türme, Pyramiden und Obelisken, ihr Lieblingsengel mit dem abgescheuerten Gesicht und dem Schoß voller erodierter Steinrosen, ein Engel, an den Isabel glauben könnte, würde sie an Engel glauben – Wesen in Menschengestalt, nur ohne wiedererkennbare menschliche Züge. Gegen einen Spaziergang auf dem Friedhof hat Isabel gar nichts einzuwenden. Eine Nekropolis mit Kapellen und Palästen, Helden, Engeln und schlichten Grabsteinen; eine Manifestation der vielen, die sich wenigstens keine Gedanken ums Sterben mehr machen müssen, egal ob sie gefeiert waren oder unbekannt.“ (S. 247)
Ansgar Skoda - 5. Juli 2025 ID 15350
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