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Unsere neue Geschichte (Teil 28)

Prüfstein

für die

Menschheit





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Im Isländischen gibt es 70 Bezeichnungen für Schnee, erklärt der Literaturwissenschaftler, Autor und Umweltschützer Andri Snær Magnason in seinem Buch Wasser und Zeit - Eine Geschichte unserer Zukunft. Das zeigt, welche Bedeutung der Schnee und die Gletscher für Island haben:


„Gletscher sind gefrorene Handschriften, die Geschichten erzählen, so wie Baumringe oder Sedimentschichten; aus ihnen kann man Informationen ableiten und ein Bild von der Vergangenheit erstellen.“ (S. 166).


Seine Großeltern gehörten seit den 1950er Jahren zum damals neu gegründeten Gletscherforschungsverein, und dieser hat mit seinen Untersuchungen wertvolle Daten erhoben, die heute wichtige Vergleichswerte bei der Einschätzung der Gletscherschmelze darstellen. Magnason beklagt die weit verbreitete „Massenapathie“, wenn es um die Dringlichkeit der Eindämmung des CO2-Gehaltes und der Erderwärmung geht und versucht die Fakten hinter Zahlen, Statistiken und Tabellen in Verbindung zu isländischer Mythologie und der Geschichte seiner Familie zu setzen. In wissenschaftlichen Vorträgen würden die Informationen ein „Rauschen“ erzeugen und nicht zum Handeln anregen. Dies ist nun ein neuartiger Ansatz, die Menschheit zum Anpacken zu bewegen, indem er die Auswirkungen im Kleinen schildert und damit erfahrbarer macht als ein Zahlenkonstrukt.

Das Tal Kringilsárrani gehörte zu den unberührtesten und schönsten Gegenden in Island. Vor über 100 Jahren gerieten romantische Dichter noch in Verzückung, wenn sie über die Natur schrieben und Gottes herrliche Schöpfung religiöse Erweckungen zur Folge hatte, später war die Landschaft nur eine ungenutzte Einnahmequelle. Magnason, Jahrgang 1973, konnte das Tal noch besuchen und sich an der einzigartigen Flora und Fauna erfreuen, heute ist es geflutet und hat einen Staudamm, weil die Aluminiumindustrie das so verfügte. Der Raubbau an dem Planeten schreitet in Island und weltweit immer weiter fort. Vieles, was positive Auswirkungen für die Wirtschaft hat, geht zu Lasten des Planeten. Magnason erläutert das Dilemma an einer Krebsdiagnose. In einem solchen Fall werden Operationen, Therapien und Rehas meist unverzüglich eingeleitet. Im Dringlichkeitsfall Erde geschieht das nicht. Die Maßnahmen sind so ineffektiv, als würde man einem Krebspatienten gerade mal Bio-Tabak und Pfefferminztee empfehlen. Magnasons Großeltern erwarteten einmal Zwillinge, und es gab Komplikationen gegen Ende der Schwangerschaft. Es wurde ein Priester gerufen, und die Kinder starben. Was wäre geschehen, wenn man auch einen Arzt hinzugezogen hätte?


„Jetzt, wo die Erde in Gefahr ist, soll man da einen Ökonomen oder einen Ökologen rufen?“ (S. 203).


Für die „Versauerung der Meere“ gibt es im Isländischen nur einen neu geschaffenen Begriff. Das Meer nimmt große Teile des zu hohen CO2-Gehalts in der Atmosphäre auf, wodurch sich der pH-Wert des Meeres erhöht und es saurer wird, was weitreichende Schäden für das maritime Leben auslöst, wie das Sterben der Korallenriffe. Zusätzlich wird die Gletscherschmelze in absehbarer Zeit zu einer Erhöhung des Meeresspiegels führen und Landmassen überfluten. Magnason liefert die entsprechenden Zahlen, erzählt aber auch vom Schicksal seines Großvaters Björn, der in den USA lebte und sich in Florida zur Ruhe gesetzt hatte. Mit 98 Jahren wurde er zum Klimaflüchtling und zog nach New Jersey, weil die Küstengebiete in Florida wegen der vielen Tropenstürme nicht mehr sicher sind.

Als einer der sprachgewandtesten Intellektuellen in seinem Land wurde Magnason auserkoren, den Dalai Lama während dessen Besuchs in Island zu interviewen. Die beiden verstanden sich gut, und der Dalai Lama schlug ihm ein weiteres Gespräch in seinem Wohnsitz in Indien vor. Magnason war ganz aufgeregt, als er eine Gemeinsamkeit in den Mythologien Islands und des Hinduismus' entdeckte. Bei beiden gibt es Kühe als Symbol, die die Menschen durch die vier Zitzen ihres Euters mit lebensspendender Flüssigkeit versorgen, was ein Sinnbild für die Gletscher ist. Der Dalai Lama amüsierte sich köstlich wegen der „heiligen Kühe“, bestätigte aber auch die katastrophalen Folgen weiterer Gletscherschmelzen. Während in Island das Gletscherwasser ins Meer abfließt, sind in Asien die Länder China, Indien, Pakistan und Bangladesch von Überflutungen bedroht, die Millionen, wenn nicht Milliarden Menschenleben gefährden können. Das Oberhaupt der Tibeter sprach auch über säkulare Ethik und plädiert generell für „gesunden Menschenverstand, gemeinsame Erfahrung und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse“ (S. 260).

Bevor er Indien verließ, reiste Magnason noch durch einen Nationalpark, in dem es u.a. Gaviale, eine heimische Krokodilart, gab. Sein Onkel Jon Thorbjarnarson war von Kindheit an in Krokodile vernarrt und setzte sich als Erwachsener maßgeblich für deren Überleben ein. Von 23 bedrohten Arten konnten bis auf sieben alle von der Roten Liste gestrichen werden. Thorbjarnarson starb 52jährig, nachdem er unermüdlich an verschiedenen Orten der Erde die Einwohner darüber aufgeklärt hatte, wie durch den Schutz von Krokodilen Sumpfgebiete als Lebensraum auch noch für viele andere Tierarten erhalten bleiben, die zudem als Feuchtgebiete Kohlenstoff binden und einen natürlichen Hochwasserschutz liefern. Es wäre zu wünschen, dass sich jede/r im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten einsetzt: „Wer versteht, was auf dem Spiel steht, setzt keine anderen Prioritäten“ (S. 60), meint Magnason.

Als Literaturwissenschaftler weiß er um die Bedeutung von Worten:


„Ein Charakteristikum unserer Zeit ist der Kampf um Wörter, um die Macht, die Welt und die Wirtschaft zu definieren, um die Macht, Nachrichten zu formulieren und zu verbreiten. Bei diesem Kampf geht es darum zu bestimmen, wie unsere Welt definiert wird. Wörter erschaffen die Realität, und der Besitz von Wörtern und Medien, um sie zu verbreiten, ist immens wichtig.“ (S. 192)


Für den Planeten gibt es keine Notstandsgesetzgebung für Verschmutzung, Verbrennung und Verschwendung, und wir setzen aus wirtschaftlichen Interessen das Lebensglück unserer eigenen und zukünftiger Generationen aufs Spiel. In isländischen Telefonbüchern hat Magnason drei Personen mit der Berufsbezeichnung „CO2-Reduzierer“ gefunden (S. 285). CO2 muss aber nicht nur reduziert werden, sondern das vorhandene auch wieder gebunden. Selbst bei einer CO2-Emission von null, müssen 1.000 bis 2.000 Gigatonnen vorhandenes CO2 reabsorbiert werden. Jetzt. Denn Wasser und Zeit stehen in einem Kausalzusammenhang, wie er einfach an einem Eisblock bei minus 50 Grad Celsius erklärt. Bis zu minus 1 Grad Erwärmung geschieht so gut wie nichts, bei null Grad ist der Kipppunkt erreicht.

Als Magnason dieses Buch schrieb und die Skandinavistin Tina Flecken trotz des hohen Schwierigkeitsgrades eine derart geschmeidige Übersetzung anfertigte, ahnte keiner von uns, dass es ein magisches Wort gibt, das die Welt zum Stillstand bringen kann. Corona! Wenn Politik und Wirtschaft sich einig sind, geschehen Dinge, die vor einigen Monaten noch niemand für möglich gehalten hätte. Während eine Infektionskrankheit etwas ist, vor dem man sich schützen kann, wären wir globalen Überschwemmungen, Bränden, Dürren und einer Unbewohnbarkeit des Planeten so gut wie schutzlos ausgeliefert.


„Die Klimakrise ist ein Prüfstein für die Menschheit.“ (S. 287)


Und das Buch schließt mit dem Satz:


„Alles, was ihr tut, ist wichtig. Ihr erschafft die Zukunft an jedem einzelnen Tag.“ (S. 289)


Helga Fitzner - 13. Juli 2020
ID 12350
Suhrkamp-Link zum Sachbuch Wasser und Zeit


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