Yalom lässt
grüßen -
und Bihl
liefert ab
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Bewertung:
Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben – dieser Titel sitzt. Direkt, provokant, unvergesslich. Dass er ursprünglich vom Managementberater Reinhard K. Sprenger stammt, der damit vor allem ein funktional durchgetaktetes Leben ohne echten Sinn kritisierte, ist ein interessanter Hintergrund. Ob Lou Bihl diesen Kontext kannte, als sie ihren Roman so benannte, bleibt offen. Aber inhaltlich trifft es – denn auch hier geht es um die Frage: Was heißt eigentlich Leben, wenn man es bewusst bis zum Ende denkt?
Im Zentrum der Geschichte stehen Helena, Ärztin und Palliativmedizinerin, und Marlene, Wissenschaftsjournalistin – Freundinnen seit Studientagen, das sogenannte „doppelte Lenchen“. Als Marlene an einem besonders aggressiven Brustkrebs erkrankt und klar wird, dass es keine Heilung geben wird, trifft sie eine radikale Entscheidung: Sie will das Leben, das ihr bleibt, genießen – und selbst bestimmen, wann Schluss ist. Ihr Wunsch nach assistiertem Suizid bringt Helena, ihre behandelnde Ärztin und engste Vertraute, in eine doppelte Zwickmühle – fachlich wie emotional.
Das Buch liest sich gut, ist sachlich geschrieben, ohne in Fachchinesisch zu verfallen. Man merkt allerdings sehr deutlich, dass Lou Bihl vom Fach ist. Ihre Herkunft als Ärztin und Fachautorin prägt den Stil: eher prosaisch als poetisch, eher genau als empathisch. Das ist anfangs angenehm klar und erfrischend, mit der Zeit sehnt man sich aber doch nach etwas mehr literarischer Tiefe, nach Zwischentönen.
Auch die Story selbst wirkt in Teilen vertraut – irgendwann taucht dann im Buch Irvin D. Yaloms Unzertrennlich sogar explizit auf. Bihl baut den Roman ganz bewusst in ihre Geschichte ein. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass Yaloms Text nicht nur ein thematischer Bezugspunkt ist, sondern fast schon als Vorlage diente. Das schmälert ein wenig das Gefühl von Originalität – gerade, weil Yaloms Buch im Umgang mit dem Tod als Paar emotional so präzise und kraftvoll erzählt ist.
Stellenweise wirken auch die Figuren etwas überzeichnet. Helenas Lebensgefährte Urs – Psychologe mit langem Haar und Fusselbart – ist fast eine Karikatur des therapeutischen Sanftmanns. Auch die erotische Spannung, die sich ausgerechnet zwischen Julian, dem Mann der todkranken Marlene, und Helena entwickelt, wirkt arg aufgesetzt. In solchen Momenten verliert der Roman an Leichtigkeit und Tiefe zugleich – es ist einfach ein Tick zu viel.
Und trotzdem: Lou Bihl hat ein wichtiges Buch geschrieben. Eines, das sich einem Thema widmet, das oft umgangen wird, obwohl es jeden betrifft – dem selbstbestimmten Sterben. Sie bringt medizinische, ethische und juristische Aspekte gut recherchiert und verständlich in den Text ein, ohne den Roman in ein Sachbuch kippen zu lassen. Und auch wenn manche Figuren schematisch bleiben, so bleibt doch der Grundton glaubwürdig: Es geht um Würde, um Kontrolle, um den letzten Rest Freiheit, den man sich nicht nehmen lassen will. Auch um Nähe, Freundschaft, Angst und Hoffnung. Und ja, stellenweise darf man sogar lachen.
*
Es ist kein perfekter Roman. Aber ein relevanter zur richtigen Zeit. Einer, der Fragen stellt ohne moralisch zu werden.
Das berührt ohne zu sentimentalisieren. Und das macht Mut über das Leben nachzudenken - indem man über das Sterben spricht.
Steffen Kühn - 29. Juli 2025 ID 15382
Unken-Link zu Lou Bihls Roman
Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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