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Erzählungen

„Sprengsatz, um

die Phantasie

freizusetzen“





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Selbst wer seit Anfang 2020 nicht mehr in London war, wird sich vorstellen können, dass die britische Hauptstadt nicht mehr dieselbe ist jetzt, wo die Kulturstätten brach liegen. Obwohl... Falsch... Es ist UNvorstellbar! LONDON ohne Theater, Museen, Kinos, Restaurants, Pubs, Shopping, Sightseeing und alles, was einen Besuch in der Metropole lohnenswert macht?! Nun hat Karin Labhart vom Diogenes Verlag für das Buch London, my Love siebzehn Erzählungen aus den vergangenen hundert Jahren ausgewählt, die zwei Dinge
gemeinsam haben: Sie spielen in London und handeln von der Liebe. Vor 2020.

*

Der Grandseigneur unter den AutorInnen ist Charles Dickens (1812-1870), dessen Beitrag von vier erwachsenen Schwestern handelt, die als alte Jungfern zusammen leben: „Sie schienen kein individuelles Dasein zu haben, sondern entschlossen zu sein, vereint das Leben zu überwintern“ (S. 207) - bis eines Tages Mr. Robinson in ihr Leben tritt. Bei W. Somerset Maugham haben wir eine reife Protagonistin, die einige Ehen und Liebschaften hinter sich hat, die dann aber aus wahrer Liebe ein großes Opfer bringt: „Man muss sich wie ein Gentleman benehmen. Auch als Frau“, erklärt sie. Die Hauptfigur von Elizabeth Bowen (1899-1973) hat sich für ihre Familie aufgeopfert, fühlt sich eingesperrt und pflegt nun mit einem fremden Mann eine Korrespondenz über Dichtkunst und das Leben. Was würde wohl eine kleine Geste der Zuneigung und Wertschätzung auslösen?

Doris Lessing (1919-2013) wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geboren und beschreibt die Geschichte der Londoner Tube, die 1863 eröffnet wurde und die älteste Untergrundbahn der Welt ist. Zu Anfang prachtvoll, schön und sicher, verfällt sie zunehmend, und Lessing nimmt mit ihrer empathischen Beobachtungsgabe die Historie und die Fahrgäste ins Visier. - Alan Bennett (*1934) weiß, was die Queen macht, wenn sie in der Kutsche sitzt und winkt. Sie liest heimlich, und Bennett legt ihr in den Mund: „Ein Buch ist ein Sprengsatz, um die Phantasie freizusetzen“ (S. 30). William Boyds (* 1952) Erzählung hat eine Protagonistin, die sich erfolgreich gegen ihren Arbeitgeber zur Wehr setzt und ihm in Boshaftigkeit nicht nachsteht. Wer der wirkliche Sieger ist, müsse sich aber noch herausstellen (S. 118).

Es kommen auch Nicht-Briten zu Wort. Wladimir Kaminer (* 1967) erzählt von seiner Mutter, die mit einem russischen Busunternehmer von Hannover für 99 Euro für fünf Tage nach London gefahren ist, was ein Abenteuer für sich war. - Cees Nooteboom (*1933) ging es als jungem Mann ähnlich wie vielen, die erstmals nach England kommen. Der Niederländer nahm die höflichen Floskeln „love“, „my dear“ wörtlicher, als sie gemeint waren. Er beschreibt die Theaterlandschaft in den frühen 1950er Jahren und seine Erlebnisse: „Gewöhnung (ist ) einer der größten Genußverderber..., die das Leben zu bieten hat. Die Spannung des Neuen, der vorsichtige Argwohn, mit dem man sich in einer fremden Umgebung bewegt, das alles gehört zum Aufregenden des Reisens.“ (S. 227) - Jan Brandts (* 1974) Beitrag ist kurz nach dem Tod von Prinzessin Diana angesiedelt und schildert das Leben einer deutschen ERASMUS-Studentin und ihrer internationalen KommilitonInnen.

Die jüngste der AutorInnen Anna Stothard (*1983) erzählt von der vielschichtigen Beziehung eines Paares und dem Leben im modernen London. Die zentralen Fragen im Verhältnis der Geschlechter zueinander unterscheiden sich nicht wesentlich von denen viel älterer Generationen. Die fehlende Zugewandtheit von Männern spielt dabei eine Rolle. - Zadie Smith (* 1975) schildert eine Geschichte aus der Hippie-Zeit und Erfahrungen, die Frauen seit Jahrhunderten machen: „Männer haben sich die uralte Fähigkeit bewahrt, eine Familie und eine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie klinken sich einfach aus, als nähmen sie einen falschen Bart ab, und schleichen sich diskret zurück in die Gesellschaft, völlig verändert.“ (S. 55) - Monika Ali (*1967) hat britische und bengalische Vorfahren, sie steuert in Brick Lane einige Weisheiten bei, z. B. über Religion: „Marketing ist der größte Gott von allen.“ (S. 213) In London leben viele Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturkreisen kommen, wie der bengalische Protagonist: „Karim war als Fremder geboren... Karim kannte seinen Platz in der Welt nicht. Deswegen verteidigte er ihn.“ (S. 216)

Vielleicht wäre das Buch vor einem Jahr leichtherziger rezipiert worden, denn jetzt geht es über London und die Liebe hinaus. Die AutorInnen wurden zwischen 1812 und 1983 geboren, und einige zählen zu den VertreterInnen der Weltliteratur. Ihre Einsichten in die Conditio Humana sind komplex und ein Querschnitt gesellschaftlicher sowie kultureller Vielfalt, die es selbstverständlich weltweit gibt.

* *

London, my Love schildert die menschlichen Beziehungsgeflechte. Bei der Liebe zwischen den Menschen und der Liebe zur Stadt London herrscht dabei nicht immer eitel Sonnenschein, und es gibt lichte wie auch dunkle Momente. Um der Gemeinschaft willen verzichten wir auf einiges und investieren auch viel in andere, weil der Mensch nicht ohne andere Menschen sein kann. Das kann zwischen Selbstaufgabe, rücksichtsloser Selbstbehauptung, aber auch einigen Glücksmomenten liegen und die Erzählungen zeigen viele Facetten davon.

Die Auseinandersetzung mit unseren Mitmenschen, verschiedenen Ansichten, Orten, Kulturen und Visionen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Eine besondere Rolle spielen dabei auch die Künste. Wenn dies alles untersagt oder eingeschränkt wird, trifft uns das essentiell, denn diese Interaktionen machen unser Menschsein aus und das, was unser Leben lebenswert und manchmal auch etwas anstrengend macht. Dieses Buch führt uns durch seine Fülle unbeabsichtigt die derzeitigen Verluste vor Augen, und auch das, was wir uns hoffentlich bald zurückerobern und danach besser bewahren können.


Helga Fitzner - 21. November 2020
ID 12614
Diogenes-Link zu London, my Love


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