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„Wie oft habe ich mich auf der Toilette wiedergefunden, unfähig aufzustehen, ohne hinzufallen.“ (Virginie Despentes, Liebes Arschloch, S. 220)

*

E-Mail-Romane sind gerade en vogue, vielleicht wie einst Briefromane im 18. Jahrhundert. Zwischen Welten, den Juli Zeh zusammen mit ihrem Kollegen Simon Urban über eine polarisierende Debattenkultur verfasste, stand monatelang an der Spitze der Bestsellerliste. Auch die französische Schriftstellerin Virginie Despentes veröffentlichte mit ihrem jüngsten Roman Liebes Arschloch einen Email-Austausch zweier Figuren, der erweitert wird durch Blog-Einträge einer dritten Figur, zu der die beiden ersteren in einer Beziehung stehen. Anders als in dem Roman von Juli Zeh und Simon Urban gehen die Figuren bei Despentes jedoch direkter aufeinander ein, entwickeln sich glaubhaft und entblößen eigene Schwächen. Der Austausch der Charaktere, der dreiundvierzigjährige Schriftsteller Oscar Jayack, die über fünfzigjährige Schauspielerin Rebecca Latté und die Mittdreißigerin, Bloggerin und einstige Verlagsassistentin Zoé Katana, wirkt authentischer und unterhaltsamer als im Roman Zwischen Welten.

Die Email-Korrespondenz beginnt damit, dass Rebecca sich bei Oscar über ein öffentliches Posting aufregt, in dem er bedauert, wie alt und unattraktiv sie geworden sei. Entschuldigend gesteht er ihr, dass er sie schon aus Kindertagen kenne. Seine Schwester war damals ihre beste Freundin. Er erklärt, er habe sie seitdem verehrt. Zunächst antwortet sie ihm nur unbeeindruckt, dass sie sich an seine Schwester gerne erinnert. Während der Coronakrise, zu der ein Großteil der erzählten Zeit spielt, schildert Oscar, der wie Rebecca alleinstehend ist, ihr seine persönlichen Eindrücke dieser besonderen Zeit:


„Manche kriegen einen Koller, manche trinken mehr als sonst, manche entdecken ihr eigenes Zuhause, manche wollen sich trennen, manche haben wahnsinnig viel gelernt, während sie ihre Kinder unterrichteten, andere haben dicke Bücher geschrieben, manche können nicht mehr schlafen, und andere schlafen wieder besser, manche haben sich durch zu viel Sport Verletzungen geholt, und wieder andere haben sich alle koreanischen Serien reingezogen, die man streamen kann.“ (S. 178)


Zur Zeit der Lockdowns, die beide sehr intensiv erleben, finden sie die Muße, ihren Austausch auszuweiten. Es entwickelt sich ein exzessiver Email-Dialog.

Die französische Schriftstellerin, Regisseurin und Feministin Despentes war mit dem Dreiteiler Das Leben des Vernon Subutex, der in den letzten Jahren auch als Filmserie und auf Theaterbühnen adaptiert wurde, sehr erfolgreich. Auch in Liebes Arschloch bebildert sie, wie das Zugehörigkeitsgefühl zu anderen Menschen das Leben beeinflussen kann. Die Künstler Oscar und Rebecca erscheinen beide vereinsamt; sie schreiben sich gegenseitig über persönliche Schwächen wie ihre Drogenerfahrungen. So schildert Oscar Rebecca, was der Alkohol für ihn bedeutet:


„Ich denke wehmütig an die körperliche Wirkung – den Schluck Whisky, das Brennen in der Kehle, wie sich die Glieder erwärmen. Aber am meisten vermisse ich die Bars. Seine Stammkneipe zu haben. Die Bedienung zu kennen. Willkommen geheißen zu werden. Der Trost eines Zuhauses, das nicht das eigene ist.
Alkohol bedeutet Stabilität. Eine andere habe ich nie gekannt, weder vorher noch währenddessen noch danach. Er war Freundin, Liebe, Eltern, fester Boden, Frischluft und Wärme.“
(S. 219)



Im Romanverlauf ermutigen Rebecca und Oscar sich gegenseitig, sich aus der Abhängigkeit von Drogen wie dem Alkohol zu befreien. Sie besuchen in der Corona-Hochphase über Zoom Selbsthilfegruppen und schreiben einander darüber. Die Emails Rebeccas, die sich erst spät ihr Suchtverhalten eingesteht, sind geradezu euphorisch, wenn sie sich die Verbundenheit in der Gruppengemeinschaft vor Augen führt:


„Das ist meine Gruppe. Es rührt mich, wenn ich diese Leute sehe, die die gleiche Scheiße bauen wie ich und die beim allgemeinen Abrutschen in das große Ist-doch-alles-scheißegal zusammenstehen und das Gegenteil von dem machen, was andere Leute beim Diner und in den sozialen Netzwerken tun – ihre Niederlage, ihre Schwäche zugeben, sich von ihrer kaputtesten Seite zeigen.“ (S. 279)


Im Roman kristallisiert sich jedoch durchgehend eine weitere inhaltliche Ebene über die Figur der Zoé Katana heraus. Sie stellt nämlich nachträglich Oscar in ihrem feministischen Blog an den Pranger. Vor Jahren nutzte er seine Machtposition als aufstrebender erfolgreicher Autor aus, um seiner damaligen Verlagsassistentin, eben jener Zoé Katana, nachzustellen und sie zu stalken. Als sie sein Verhalten im Verlag öffentlich machte, wurde sie entlassen. Rebecca hat großes Verständnis für Zoé, die in ihrem Blog Oscar vehement kritisiert und damit große Reichweiten erzielt. Rebecca schreibt Oscar jedoch, dass sie sein damaliges Verhalten nur beispielhaft für ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sehe und das Problem in patriarchalen Strukturen liege. Sie zieht Parallelen zur Filmbranche und dem Harvey Weinstein-Skandal und legt nicht – wie Zoé – nahe, dass die grundsätzliche Schuld vor allem bei einer Person liege:


„Ich hatte erlebt, wie sich viele Schauspielerinnen in Cannes aufführten, wenn sie mitbekamen, wer er war, und unbedingt seine Zimmernummer haben wollten, sodass ich erst mal kein Mitleid hatte. Zoé Katana hatte Recht, am merkwürdigsten ist das Umfeld. Jahrzehntelang war Weinstein der King. Ich habe nicht nur gesehen, wie Mädchen sich prügelten, um in seine Nähe zu kommen, sondern auch, wie Verleihfirmen Minderjährige ins Rennen schickten. Und sie wussten genau, was sie taten. Und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Ich habe Eltern erlebt, die, weil sie selbst keine Karriere gemacht hatten, ihre heranwachsende Tochter opfern wollten. Aber in dem Moment, wo der Typ vom Thron stürzt, hörst du nichts mehr von ihnen. Das gilt für ihn wie für alle, die Probleme bekommen haben.“ (S. 93f.)


Interessant ist hier, dass Despentes selbst in der Filmbranche aktiv war und ihren Debütroman Baise moi (Fick mich) von 1994, der von Opfern sexualisierter Gewalt, Erniedrigungen und Enttäuschungen handelt, 2000 medienwirksam skandalträchtig verfilmte. Liebes Arschloch thematisiert auf inhaltlicher Ebene neben Suchtverhalten, sexuellen Übergriffen, den Geschlechterverhältnissen auch die Schattenseiten des Film- und Literaturbetriebs. In Stil, Form und Gestus erscheint das Erzählte besonders destruktiv, wenn der Blog und die einhergehende Perspektive von Zoé Katana wiedergegeben wird, wie hier:


„Ab den Achtzigerjahren hat es sich die Filmindustrie angelegen sein lassen, die repressivste und effizienteste Antwort auf die Emanzipationsbestrebungen zu geben. Sie dekretierte: Frauen sind dafür da, um begehrt und genötigt zu werden, Schwarze, um zu putzen und zu tanzen, Dicke, damit man über sie lacht, Revolutionäre, um ermordet zu werden, Arme, um Hunger zu leiden und bemitleidet, aber von einem netten Reichen gerettet zu werden, Aliens, um getötet zu werden, etc.“ (S. 192)


Doch versöhnlichere Erzählmomente lassen regelmäßig durchscheinen, dass sich der Blickwinkel auf Dinge ändern kann und Charaktere im Alter auch mitunter reifen, so schreibt Rebecca in einer Passage an Oscar:


„Meine Perspektive und Sicht auf diese Industrie, der ich viel verdanke und die mir unendlich viel gab, hat sich verändert – und das überrascht mich selbst am meisten. So sind manche meiner Liebesbeziehungen zerbrochen. Erst herrscht eine außergewöhnliche Eintracht, über das Normale hinaus, eine herrliche Verbundenheit, und eines Tages wird dir klar – der Zauber ist dahin. Das hat es gegeben. Das gibt es nicht mehr.“ (S. 130)


Virginie Despentes legt mit Liebes Arschloch einen spannenden, erhellenden und trostreichen Roman in einer durch gesellschaftliche Umbrüche geprägten schwierigen Gegenwart vor. Vereinsamte Charaktere geben einander mit ihren teils harten Worten und ungewöhnlichen Gedanken Halt, überprüfen ihre teils radikalen Ansichten und bauen zaghaft neue Freundschaften und Lebensperspektiven auf.


Ansgar Skoda - 25. Mai 2023
ID 14215
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