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Roman

Die Weltgeschichte

oder wir





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Es ist nicht ganz falsch zu behaupten, alle Liebesgeschichten ähneln sich. Und doch sind wir versessen darauf, immer neue Geschichten der Liebe zu hören und zu lesen. Geradezu süchtig sind wir danach, und dieser Hunger lässt auch mit den Jahren nicht nach. Vielleicht läuft der Liebe nur unsere Mordgier den Rang ab. Bei Lichte betrachtet handelt es sich wohl nur um einen Januskopf.

Julia Schochs Roman Das Liebespaar des Jahrhunderts beginnt mit dem Ende einer Liebe. Mit einem einfachen Satz, der gemeinhin das allmähliche Liebessterben abschließt:


„Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich. Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe. Am Anfang habe ich zu dir gesagt: Ich liebe dich."


Dieser Romananfang gibt einen Ton vor, der bezeichnend ist für Schochs Prosa: Präzise und ohne Schnörkel. Vor allem aber ist dieser Roman auf eine erschreckende wie auch beglückende Weise wahrhaftig. Und wenn wir schon bei Superlativen sind, sollte man fast von einem weisen Roman oder einer weisen Erzählerin sprechen.

Zugegeben: Es besteht zu Recht eine gewisse Abneigung vor der Idee, Literatur solle ratgeberischen Charakter besitzen. Man kann die zahllosen Gründe dafür kaum auf eine Seite bannen. Und doch lesen wir Romane immer auch, weil wir etwas über fremde Leben erfahren wollen. Wir wollen etwas erkennen. Und daher ist die Behauptung, die sogenannte hohe Literatur sei nur l´art pour l´art, ein Gerücht. Immer sind wir Voyeure und Lernende zugleich. Wir lauschen den Berichten über andere Menschen, um uns selbst auf die Schliche zu kommen. Und dieser Umstand erklärt nicht zuletzt die Konjunktur des autofiktionalen Genres in unserer Zeit. Julia Schochs Roman sollte dieser Art des Schreibens zugerechnet werden.

Der Roman, der untertitelt ist als Biographie einer Frau, erzählt aus der Ich-Perspektive von einer dreißig Jahre andauernden Liebe. Vieles entspricht dem Klischee. Zunächst die leidenschaftliche Anfangszeit der Beziehung auf Matratzen im Plattenbau, die alsbald in bürgerlichen Bahnen verläuft, mit Haus und Kindern und fester Arbeit. Schnell wird deutlich, dass die Ich-Erzählerin in der Rückschau eine gewisse Abhängigkeit von ihrem Geliebten empfindet. Zunächst gab sie vieles für ihre Liebe auf, im Laufe der Zeit wächst aber die Distanz. Die sentenzartige Prägnanz, mit der Julia Schoch diese Phasen einer Beziehung kommentiert, besitzt Seltenheitswert. Man fühlt sich, als würde man die eigene Geschichte oder Teile derselben lesen. So wird die Erzählerin zur Koautorin der Erfahrungen ihrer Leser. Nicht zuletzt, weil man erkennt, wie furchtbar gewöhnlich die Geschichten der Liebe, oberflächlich betrachtet, sind.

Schochs Erkenntnisse liegen aber nicht auf der Straße. Man liest den Roman mit Gewinn, weil die Geschichte so klug kommentiert wird. Dabei kommt man in den Genuss einer Lehrstunde über die Liebe, weil der Roman den Naturalismus unseres menschlichen Liebesverhaltens auf so luzide Weise erläutert, dass man fast von einem Lehrbuch sprechen will. Auch wenn, dies sei betont, die autofiktionale Form nahelegt, dies nicht zu tun.

Im Gedächtnis bleibt zuletzt die Brillanz, mit der die Erzählerin ihre nagende Sehnsucht nach Trennung beschreibt, die sich aus einer Zerstörungslust speist, die Paare offenbar irgendwann immer heimsucht. Als Leser drängt sich der Eindruck auf, dass da etwas zu begreifen ist, was man bisher nie ganz verstanden hat. Wenn die Erzählerin schildert, wie sich das Paar mit den Jahren immer schroffer begegnet und schließlich gleichgültig nebeneinanderher lebt, bis irgendwann der turning point einsetzt, der eine neue Zuwendung ermöglicht, so ist das kein happy end im klassischen Sinne. Vielleicht aber ist es der Ausdruck einer Sehnsucht, die sich aus den Ruinen eines auch mentalen Kapitalismus erhebt, der alles, auch das Beziehungsleben verwüstet. Oder in den Worten der Erzählerin:


„Wollen doch mal sehen, wer hier den längeren Atem hat, die Weltgeschichte oder wir!“


Jo Balle - 5. April 2023
ID 14133
dtv-Link zum Roman Das Liebespaar des Jahrhunderts


Post an Dr. Johannes Balle

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