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nachDRUCK # 2

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Roman

Sehnsucht

nach Spuren





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„Ihr denkt, ihr hättet eine Bibliothek in euch, eine Sammlung, Bilder und Erinnerungen, die euch zu dem machen, was ihr seid. Gründe für das, was ihr mögt und nicht mögt. Aber diese Bibliothek ist eine Erfindung.“ (Judith Hermann, Daheim, S. 128f.)

*

Wie verortet ist der Mensch? Woran hängt er? Was macht ihn aus? Judith Hermanns neuer Roman Daheim behandelt das Beheimatetsein in den eigenen vier Wänden, in der Gemeinschaft, im Hier und Jetzt. Die namenlos bleibende 47jährige Ich-Erzählerin ist vielleicht so etwas wie eine Aussteigerin. Nachdem ihr volljährig gewordenes einziges Kind Ann auszog, machte sie einen Cut. Sie trennte sich von ihrem Mann Otis und zog alleine in ein Haus in einer einsamen Küstenlandschaft. Hier lebt sie zurückgezogen. Sie arbeitet als Kellnerin in der nahe gelegenen Kneipe ihres Bruders. Die Erzählinstanz gibt, zwischen den Zeitebenen springend, fortwährend die Gedankenwelten der Protagonistin wieder, die um den Sinn des Lebens kreisen:


„Was brauchen wir und worauf können wir verzichten. Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene. Meine Sonne ist Ann. Otis und Ann.“ (S. 148)


Diese Gedanken erscheinen mitunter ziellos und bergen Existenzängste:


„Ich denke, warum fallen mir all diese Dinge ein, ich denke, vielleicht muss ich sterben. Ziemlich bald sterben, alles noch einmal bedenken, bevor ich sterben muss.“ (S. 116)


Schnell findet die Protagonistin Ablenkung und macht neue Bekanntschaften. Ihre Nachbarin Mimi wird bald zu einer neuen Freundin. Anders als die Ich-Erzählerin genießt die auf dem Land groß gewordene Mimi eine archaische Kreatürlichkeit. Sie mäht nackt den Rasen und badet nach dem (Nackt-)Schwimmen im Meer gerne im Licht. Doch auch sie kriegt mitunter „ein Fernweh, dass es kracht“ (S. 151). Mimi erinnert an die Endlichkeit allen Seins, wenn sie alte Mären von der Rache der Meeresgötter erzählt:


„Die Flut hat das Land kilometerweit unter Wasser gesetzt. Der Sturm hat drei Tage und drei Nächte gewütet. Das Wasser hat diese erbärmlichen Leute mit sich gerissen, es hat alles vernichtet, was sie hatten. Es hat alles zerstört.“ (S. 97)


Mimi fragt ihre neue Freundin nicht ohne Unterton, ob diese „überhaupt schon mal wehrhaft“ war (S. 98). Ein frommer Wunsch oder eine übergriffige Kritik: Tatsächlich bleibt die Ich-Erzählerin im gesamten Roman erstaunlich passiv, konfliktscheu, nimmt vieles hin und agiert oftmals wie betäubt oder ferngesteuert. Solcherart Eigenarten der Menschen zu beleuchten, scheint ein Anliegen der Autorin Judith Hermann zu sein. Menschen werden wiederholt als personifizierte „Tics“ (S. 132) bezeichnet oder erscheinen „nicht ganz bei Trost“ (S. 135).

Im Verlauf von Daheim lernen wir so weitere Eigenbrötler kennen. Otis, der Ex-Mann der Ich-Protagonistin, ist ein Apokalyptiker. Er hat messihaft in seiner ganzen Wohnung Gegenstände angehäuft, die im Fall eines Weltenendes seiner Meinung nach nützlich werden könnten. Dann ist da der Bruder der Protagonistin, der von einer seiner Kellnerinnen besessen ist. Diese 20jährige Nike könnte seine Tochter sein und wird gegen Romanende überfahren. Die Ich-Erzählerin darf Nike im Leichenschauhaus identifizieren. Wie es zu diesem frühen Tod kam, wird jedoch nicht geklärt. Vieles muss sich der Leser aus früheren Andeutungen im Roman ableiten. So wurde scheinbar nicht nur die Ich-Erzählerin sondern auch Nike brutal zu bedingungslosem Gehorsam erzogen und entwickelte sich dadurch zu einem Sonderling.

Leider verfolgt der Roman, der immerhin 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, viele Fäden nicht weiter. Daheim schwelgt eher in detailreichen Beschreibungen. Darüber hinaus ist es vielleicht auch ein Nachteil, dass Hermann für den Roman eben keine bewusst neutrale auktoriale Erzählinstanz wählte, sondern aus dem Blickwinkel eines erlebenden Ichs schreibt. Die manchmal sehr reflektierten und gefühlvollen Betrachtungen stehen erstaunlich kühl-deskriptiven Schilderungen gegenüber. Geradezu ärgerlich ist es, dass die genauen Beobachtungen nicht zu einer schlüssigen oder sinnstiftenden Handlung beitragen. So beobachtet die Ich-Erzählerin auf dem Hof ihres neuen Liebhabers Arild, einem Landwirt, wortlos brutale Massentierhaltung:


„Hunderte von Schweinen in Boxen, auf vergitterten Boden, nackt und blinzelnd, sie liegen aufeinander, stolpern übereinander, klettern auf die Futtertröge, werfen sich gegen die eisernen Stäbe der Buchten. Über den Boxen pendeln Körbe aus Stahl. Die Schweine sind sich alle absolut gleich, sie sehen merkwürdigerweise überhaupt nicht wie Schweine aus, es sind einfach viel zu viele. Fast alle blicken uns an. Etliche haben keine Schwänze mehr, ihre Rücken und Flanken sind zerkratzt, eines liegt alleine in einer Ecke, die kurzen Beine von sich gestreckt, unmöglich zu erkennen, ob es atmet. Das Licht versetzt die anderen in Aufregung, ihr Schrillen schwillt an, es klingt entsetzlich. Wir stehen nebeneinander und sehen hin, eine ganze Weile lang, schließlich macht Arild das Licht wieder aus.“ (S. 118)


Die Ich-Erzählerin nimmt diesen Anblick stoisch und desillusioniert hin, ohne mit Arild darüber zu sprechen. Sie bleibt die Liebhaberin dieses Schweinezüchters. Hat sie sich den brutalen Alltag auf dem Lande bereits zu Eigen gemacht, ihn inhaliert oder fehlt es ihr an Mitgefühl? Das Schicksal der Schweine wird ebenso spröde und kalt abgetan wie dasjenige von Nike.


Ansgar Skoda - 21. Juli 2021
ID 13038
S. Fischer-Link zu Daheim von Judith Hermann


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