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nachDRUCK # 2

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Roman

Verkantete

Wirklichkeit





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Alltag – wir verlassen uns auf das, was wir beobachten und halten dieses für Realität. Was passiert, wenn dieses natürliche Miteinander aus dem Gleichgewicht gerät, wenn die eigene Wahrnehmung nicht mit dem übereinstimmt, was die anderen Menschen um uns herum sehen, wenn Vertrauenspersonen unsere Sinneseindrücke sogar dementieren?

Daniela tut sich schwer. Insbesondere der August mit seiner stehenden Hitze in ihrer Heimatstadt Prag bringt ihr Inneres ins Wanken. Wir lernen Daniela auf einer Familienfeier als 17-Jährige kennen. Beim Kuchenessen bei ihrer Tante platzt ihr fast die Kleidung – zu heiß gewaschen oder einfach zu dick geworden? Für Daniela sorgt eindeutig die Mutter mit einem speziellen Waschprogramm für die ungemütliche Kleidung. Bei ihrer knapp zwei Jahre jüngeren Schwester Jana nimmt sie blaue Flecken an den Oberarmen wahr. Heimlich beobachtet Daniela deren Ursache. Sie entstehen, wenn ihre Mutter die Schwester boshaft zwickt. Zur Rede gestellt, verneinen Mutter, Vater und auch Jana dies allerdings.

Da war doch nichts heißt es dann lapidar. Dieser titelgebende Satz zieht sich durch das gesamte Buch. Danielas Beobachtungen werden als Unsinn und Fantasie abgetan, obwohl sie für sich Beweise für die Vorfälle hat. Über sieben Jahre treffen wir Daniela immer wieder im August. Die sensible Frau beginnt ein Anglistikstudium und versenkt sich in ihre Bücher, u.a. in John Fowles Der Sammler.


"Der Sammler zwingt sie über sich selbst nachzudenken. Die junge Frau, die der Protagonist der Geschichte entführt und in seinem Keller einsperrt, hat für Daniela einen fast symbolischen Wert.
Gefangenschaft ist nicht nur Raum, fällt Daniela kurz vorm Ende des Buchs ein und sie notiert diesen Gedanken umgehend am Seitenrand. Gefangenschaft ist genauso Zeit. Auch wenn ein Mensch absolute Bewegungsfreiheit hat, können ihn Erinnerungen in Reglosigkeit halten. Ihn an bestimmten Punkten in der Zeit ergreifen. Ihn an Störelemente erinnern, die ihn nicht weiterkommen lassen."

(S. 68)



Daniela hat ihr Leben trotz aller Unsicherheiten im Griff. Doch dann kommt Štěpán. Der ältere Hilfsdozent im Seminar wird ihr fester Partner. Er ist dominant und beeinflusst sie stark. Bald liest sie nur noch Bücher, die ihm gefallen, und die Geschichte der beiden entwickelt sich weiter. Der Autor Jakub Stanjura versteht es gut das Innere seiner Protagonistin zu beleuchten, und auch Štěpán wird in seinem Agitieren transparent.

Der Autor schreibt in einem kurzen Statement vor seinem Roman von Gaslighting. Dieser aus der Psychologie stammende Begriff kennzeichnet die Machtübernahme durch einen geliebten Menschen über das eigene Ich durch Verunsicherungen und Bestreiten der eigenen Wahrnehmung. Ein brutales Instrument, was letztendlich zum völligen Zusammenbruch des Opfers führen kann. Perfide beschreitet Štěpán diesen Weg, und der Schaden, den er bei Daniela anrichtet, endet im Grauen.

Doch ist dies wirklich so? Auch wenn das Buch aus der Perspektive von Daniela geschrieben ist, so sind für mich als Leserin nicht alle Dinge nachvollziehbar. Kann moderne Kleidung nach unsachgemäßem Waschen wirklich derart schrumpfen, dass sie sich kaum noch tragen lässt? Sind die blauen Flecken an den Oberarmen der Schwester tatsächlich auf Misshandlungen der Mutter zurückzuführen? Beweise erhalten wir als Leser nicht, und auch andere Lesarten wären möglich. So könnte uns das Buch auch das Innenleben einer zutiefst gestörten Frau zeigen, die ihrer Familie den Rücken kehrt und bestimmte Signale ihrer Umgebung falsch deutet.

Oder treffen hier gar zwei Menschen aufeinander, deren Probleme erst die unglückliche Allianz ermöglichen, aus der es für beide kein Entrinnen gibt? Štěpán, getrieben von seiner Angst vor dem Alleinsein, gipfelt in der absoluten Kontrolle seiner Partnerin; und Daniela, die mit eigenen Ängsten vollgestopft ist, lässt sein Handeln zu.

Auch so könnte der Roman in seiner Interpretation zulässig sein. Als Leser stehen auch wir vor der Frage, was Realität ist.

Ein psychologischer Roman, der unter die Haut geht und den Leser zweifelnd und verunsichert zurücklässt. Die ausgefeilte Sprache, mit der die inneren Konflikte beschrieben werden, tut ein Übriges dazu. Da war doch nichts, oder etwa doch? Zumindest halten wir ein gutes Buch in den Händen, und das ist Realität.


Ellen Norten - 16. Juni 2025
ID 15308
Verlagslink zum Roman Da war doch nichts


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