Bis zum
letzten
Atemzug
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Bewertung:
Mit dem Selbstmord Hitlers und der Eroberung Berlins, ging das „Dritte Reich“ nicht zu Ende. Was danach passierte, ist kaum Thema in politischen Dokumentationen und Abhandlungen. Die Schreckensherrschaft der Nazis dauerte drei weitere Wochen an, drei Wochen, in denen Nazigrößen, die nicht an ihr politisches Ende glauben wollten und um ihre Macht kämpften. Die kriegerischen Auseinandersetzungen hielten an, und es gab Exekutionen an Soldaten und angeblichen Deserteuren.
Der groteske letzte Akt der Nazidiktatur fand seinen Platz in Flensburg und Umgebung. Dort gab es einen funktionsfähigen Flughafen, das Gebiet war noch nicht erobert, und Großadmiral Karl Dönitz und die Nazielite schufen u.a. in der Marinekriegsschule in Mürwik ihre Machtzentrale. Sie träumten von einer Allianz mit den Alliierten gegen die Sowjets. Dönitz prägte die Mär von der sauberen Wehrmacht, und Wirtschafts- und Produktionsminister Albert Speer richtete das Wort an Industrie, Landwirtschaft und Arbeiterschaft.
Dann, nach der Kapitulation, begannen Angehörige der SS und andere NSDAP-Funktionäre ihren Identitätswechsel. So tauchte Wilhelm Koppe, zuletzt bei HSSPF in München (Höhere SS- und Polizeiführer) unter dem Mädchennamen seiner Frau als Wilhelm Lohmann unter und avancierte zum kaufmännischen Direktor der Sarotti-Schokoladenfabrik in Bonn. Der Gestapochef im galizischen Lemberg (heute Lwiw) Kurt Strawitzki, der bei der Ermordung von 160.000 Juden involviert war, ging als Kurt Stein in die Zentrale der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn, wo er in der Registratur arbeitete. Andere hatten nicht einmal einen Namenswechsel nötig. So wurde Minister Lutz Graf Schwerin von Krosigk zwar 1949 als Kriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt, kam aber 1951 schon wieder frei. Er gehörte kurzzeitig der Organisation Gehlen an und ist der Großvater von Beatrix von Storch. Der Vertreibungsexperte Werner Lorenz wurde im Kriegsverbrecherprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, aber bereits 1955 entlassen. Seine Tochter Rosemarie war die dritte Ehefrau des Medienmoguls Axel Springer.
"Es zeigt sich, dass die Biografien dieser Männer auf verwandtschaftliche Beziehungen in die Spitzen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, auf Verbindungen ins rechtsextreme Lager sowie zu Geheimdienstorganisationen, der Organisation Gehlen und dem BND sowie schließlich in die frühe Bundeswehr verweisen." (Mai 1945: Das absurde Ende des "Dritten Reiches" von Gerhard Paul, S. 300)
Mittlerweile lebt keiner der untergetauchten SS-Männer mehr. Immerhin wissen wir, dass im harmlosen Sarotti-Mohr ein faschistischer Kern steckt, oder dass das rechte Profil bei Beatrix von Storch wohl durch deren verwandtschaftliche Bande ihren Ursprung finden kann. Die politische Farbe des Springer-Verlags mag ebenfalls durch die Verbindungen zur Nazifamilie resultieren. Schwarz auf weiß zu lesen, dass Tausende Nazipersönlichkeiten erfolgreich untertauchten, treibt zumindest mir die Zornesfalten auf die Stirn.
Das Buch gewährt einen Einblick in die Denke der Nazis. Fotografien und detaillierte Angaben zu den Vorgängen lassen die Zeit der Machtübergabe lebendig werden.
Die saubere Wehrmacht, propagiert von Dönitz, und die Blut- und Boden Romantik werden gezeigt und so auch die heute noch damit verbundenen Gefahren. Ein gut recherchiertes Buch, dass zumindest bei mir viele Wissenslücken geschlossen hat, Lücken, die es in unserer modernen Gesellschaft so nicht geben sollte.
Ellen Norten - 29. Juli 2025 ID 15384
Herder-Link zum Sachbuch von
Gerhard Paul
Post an Dr. Ellen Norten
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