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nachDRUCK # 2

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Roman

Highbrowness

im Nachkriegs-

Berlin





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Die in Berlin geborene Gabriele Tergit (1894-1982) und ihre humoristischen Zeitzeugnisse werden heute wiederentdeckt. Katharina Thalbach liest im Berliner Ensemble seit Anfang diesen Jahres aus Tergits Debüt Käsebier erobert den Kurfürstendamm; für heute Abend gibt es noch Restkarten.

Tergit war in den 1920ern und 30ern Journalistin u.a. beim Berliner Tageblatt, dem Börsen-Courier und der Weltbühne. Schriftstellerisch feierte sie 1931 mit ihrem satirischen Debütroman über ihr Arbeitsumfeld, die Kulturredaktion einer Berliner Tageszeitung, einen enormen Erfolg.

Die jüdische Autorin war jedoch im aufkommenden Nationalsozialismus nicht nur als kritische Redakteurin und Gerichtsreporterin zunehmend gefährdet. Sie emigrierte 1933 gerade noch rechtzeitig nach Palästina, 1938 zog sie dann nach London. Die Neuauflage von Käsebier bei Schöffling & Co. war im Jahr 2016 sehr erfolgreich. Der Verlag brachte daraufhin auch weitere Werke der deutsch-britischen Autorin neu heraus, zuletzt Der erste Zug nach Berlin. Auch die Neuausgabe dieses satirischen Romans wird durch ein informatives Nachwort von Nicole Henneberg bereichert. Die Literaturkritikerin wird aus dem Werk im Herbst und Winter diesen Jahres unter anderem in Berlin, Neuruppin und Frankfurt am Main lesen. Erstmals wurde das Originaltyposkript mit Wechseln in das Englische und mit teils auch rassistischer Sprache, wie der Verlag eingangs hervorhebt, veröffentlicht.

*

Der erste Zug nach Berlin, den die Autorin 1948 im britischen Exil verfasste, beobachtet alltägliche Perspektiven und die unerbittliche, weiterhin antisemitische Stimmung im zerbombten Berlin. Im Zentrum der Handlung des Nachkriegsromans steht die 19jährige Maud aus der Upper Class New Yorks, welche ihren Onkel Phipps und die britisch-amerikanischen Siegermächte während einer Delegationsmission im Frühsommer 1949 in Berlin begleitet. Die junge Frau trägt voller Naivität, Neugier und romantischer Abenteuerlust während der Anreise wohlsituiert eine Chanel-Robe. Sie hat selbst journalistische Ambitionen. Mauds Onkel soll zusammen mit anderen Begleitern eine liberale Zeitung in Berlin gründen, um die Deutschen aufzuklären. Schnell wird die staunende Maud von älteren Begleitern zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen. Sie verfolgt politische Debatten und befremdliche Vorträge voller Ideologien, Phrasen und einseitig gesammelter Fakten.

Der Romaneinstieg ist recht langatmig. Tergit arbeitet mit Schnitten, abrupten Sprüngen und ironischen Spitzen. Sie demonstriert mit zahllosen englischen Einsprengseln die Mehrsprachigkeit ihres schier unübersichtlichen Figurentableaus. Es gibt viele unterschiedliche, schwer zuordenbare Figuren. Einige, wie „Abraham Lincoln“ (S. 27), haben berühmte Namensvetter. Oft erfährt der Leser erst im Romanverlauf, dass eine bereits mehrfach aufgetretene Figur schwarz oder jüdisch ist.

Ton, Sprache und Erzählgestus erscheinen mitunter abgehoben, elitär oder kryptisch. Die Charaktere bewegen sich oftmals auf festlichen Anlässen oder streben von einer Kneipe zur nächsten. Es wird selten journalistische Arbeit gezeigt; Traditionsbewusstsein oder Dünkel werden hochgehalten. So gehört eingangs zu einer satirischen Pointe, dass gleich in mehreren Restaurants nur ein einziges Nationalgericht der Briten angeboten wird, „Mutton and 2 Veg.“ (S. 12) In Berlin wird die gesellschaftliche Delegation mit antisemitischen Hoteliers konfrontiert. Es wird angedeutet, dass ehemalige Nazis in Berlin neue hohe Ämter erlangen. Erschreckend sind später auch wiedergegebene verstörende Stimmen eines Chauffeurs oder einer Mutter dreier verstorbener Soldaten, die ungebrochen ihre Anhängerschaft zu Hitler bezeugen. Doch leicht holzschnittartig angelegte Charaktere, wie etwa Maud, lassen trotzdem wenig politisches Bewusstsein erkennen, wenn sie vor allem naiv im Luxus schwelgend gezeichnet werden:


„Ich hatte das Gefühl, ich bin in eine höhere und bessere Welt gekommen, eine Welt aus Beethoventrios und Zimmern wie in dem Schloss und Gärten, in denen der Mensch sich wirklich zum Herrn der Natur machte.“ (S. 86)


Das kriegszerstörte Berlin beschreibt Tergit hingegen irritierenderweise kaum. Zu Lebzeiten fand sich kein Verleger, um Der erste Zug nach Berlin zu veröffentlichen. Der wenig mitreißende, sich mitunter in langatmigen Detailbeobachtungen verlierende Roman gehört sicherlich nicht zu den besten Texten der gefeierten Großstadtchronistin. Trotzdem ist das Werk auch in der heutigen Zeit mitunter entlarvend, weil des öfteren Fragen des Nationalismus, der Meinungsbildung und des Populismus erfrischend bitter beleuchtet werden. 1998 wurde im Berliner Bezirk Mitte ein Weg unweit des Potsdamer Platzes nach der Autorin benannt, die Gabriele-Tergit-Promenade.


Ansgar Skoda - 5. Juli 2023
ID 14277
Schöffling-Link zum Roman Der erste Zug nach Berlin


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