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Als Gesamtschau
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Bewertung:
Friedrich Kießlings Buch Adenauer. Dreieinhalb Leben ist eine Biografie mit dokumentarischem Atem – ehrgeizig in der Anlage, nüchtern im Zugriff und gerade deshalb wirksam. Schon der Titel ist Programm: Kießling erzählt Adenauer in Phasen – das erste Leben im Kaiserreich, das zweite in der Weimarer Republik, das „halbe“ unter dem NS-Regime (politisch weitgehend zum Schweigen gebracht) und dann das große vierte nach 1945: Aufstieg zum Gründungskanzler der Bundesrepublik. Dieser Zuschnitt sorgt für Klarheit: Adenauers Handeln wird konsequent im jeweiligen Zeitkontext gelesen – nicht gegen ein Set heutiger Maßstäbe ausgespielt, sondern vor dem Hintergrund der politischen Werkzeuge, Zwänge und Möglichkeiten, die ihm tatsächlich zur Verfügung standen. Genau das macht die Deutung tragfähig.
Man spürt auf jeder Seite den Fleiß und die Materialtiefe: ausgedehnte Anmerkungsapparate, ein pralles Literaturverzeichnis – Kießling hat nicht nur Leben und Werk, sondern auch die Adenauer-Rezeption und die Reihe früherer Biografien ernsthaft abgeklopft. Ergebnis ist ein ambivalentes Porträt: Adenauer als Machtpolitiker mit enormer Handlungsmacht, der die Westbindung und europäische Integration durchsetzt, die soziale Marktwirtschaft mit verankert, die Bundeswehr auf den Weg bringt und der jungen Demokratie internationalen Anschluss verschafft – und zugleich einer, der illegale Parteienfinanzierung akzeptiert und die Opposition ausspähen lässt. Kießling wertet, aber er überzieht nicht: Er zeigt die Schattenseiten, ohne die Leistungsschicht zu relativieren, und hält umgekehrt die Erfolge fest, ohne die Kosten zu verschweigen. Wer heute rasch mit Etiketten („autoritär“, „Intrigant“, „Alt-Nazis in der Verwaltung“) zur Hand ist, wird hier daran erinnert, dass auch eine SPD-geführte Regierung 1949 mit ähnlichen Narrativen der Weimarer Schule hätte regieren müssen – viele „roten Linien“ waren strukturell angelegt, nicht allein biografisch. Diese Kontexttreue ist eine der großen Stärken des Buches.
Erzählerisch hat die Biografie einen langen Atem: Kießling führt tief in parlamentarische Verfahren und Kabinettsprozesse. Das ist in Teilen mühsam – man arbeitet sich durch Detailpassagen, die eher für politikhistorische Liebhaber geschrieben scheinen. Aber genau dort zeigt sich, wie Adenauer operierte: mit dem Handwerk eines in Kaiserreich und Weimar geschulten Parlamentariers, der nach 1945 die Fäden neu aufnimmt und gegen massiven Widerstand – von Moskau über die Alliiertenaufsicht bis zur innerparteilichen Kritik – seinen Kurs behauptet. Wer diese Kapitel mit Geduld liest, versteht besser, weshalb Adenauer so wirksam war: nicht nur wegen der großen Vision, sondern wegen der Technik, mit der er Mehrheiten baute, Konflikte kanalisiert und Zuständigkeiten gegeneinander verschaltet hat.
Unterm Strich ist Dreieinhalb Leben eine kluge, differenzierte Gesamtschau: Sie zeigt den Gründungskanzler, von dessen Erbe die Republik bis heute zehrt – Westbindung, Europa, Grundgesetzpraxis – und sie legt offen, welche Preise dafür gezahlt wurden. Wer Adenauer nicht als Ikone noch als Karikatur lesen will, sondern als durch und durch politischen Menschen, bekommt hier das derzeit wohl balancierteste Bild. Für Einsteiger kann die Stofffülle streckenweise zäh sein; als maßstabsetzende Biografie ist das Buch sehr zu empfehlen.
Steffen Kühn - 29. Oktober 2025 ID 15533
dtv-Link zur
Adenauer-Biografie
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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