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Sachbuch

„Niemand wird

uns retten,

wenn wir es

nicht tun.“





Bewertung:    



„Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge haben wir nach mehr als hundert Jahren Forschung auf zahlreichen Feldern nicht den geringsten Beweis dafür, dass sich die Zukunft vorhersagen lässt. Weit besser ist der direkte Blick in die Vergangenheit, auf die Müllhalden der nicht verwirklichten Zukunftsentwürfe...“ (S. 175)

*

Das neue Buch des britischen Schriftstellers Ian McEwan trägt den Titel Erkenntnis und Schönheit – Über Wissenschaft, Literatur und Religion und ist eine Sammlung von Vorlesungen und Veröffentlichungen aus den Jahren 2003 bis 2019. Mit dem Gedanken, dass die Größe in der Literatur für die meisten von uns verständlicher und nachvollziehbarer sei als die Größe in der Wissenschaft, beginnt er seine Ausführungen. Er würdigt die Arbeit von Charles Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie gegen die Lehrmeinung der Kirche verstieß. Die glaubte, dass der Mensch als Krone von Gottes Schöpfung etwas Besonderes sei, Darwin hatte viele Argumente und Indizien zusammengestellt, die von einer grundsätzlichen Anpassung von Lebewesen an ihren Lebensraum und einer natürlichen Auslese ausging. Das bedeutete im Klartext eine Entwicklungsgeschichte auch des Menschen und dessen Verwandtschaft mit Primaten.

Darwin untersuchte die Muskelpartien in den Gesichtern von Menschen und Affen, die sich ähneln. Sie sind Ausdruck von Gemütsbewegungen, die für Darwin aber physiologisch bedingt waren. Wenn nun Gefühle das Ergebnis von Evolution sind, dann sind sie folglich universell. „Wir stammen von einer gemeinsamen Stammform anatomisch moderner Menschen ab, die vor vermutlich kaum zweihunderttausend Jahren aus Ostafrika auswanderten, um sich über die Erde zu verbreiten“ (S. 22), erläutert McEwan. Die menschlichen Gefühle und die menschliche Natur sind also universell, was auch bedeutet, dass unser Verhalten eine biologische Grundlage hat. Wenn wir alle dieselbe Abstammung haben, dann ist auch dem Rassismus jegliche Begründung entzogen. Das ist der schöne Teil an Darwins Theorie.

Während die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen meistens im Hintergrund bleiben und für große Fortschritte der Menschheit sorgen, beklagt McEwan die Einstellung von Kunstschaffenden:


„Dem Künstler gehört das eigene Werk, und er hockt darauf mit finsterer Miene wie eine Henne auf ihren Eiern... (Seine/ihre) Individualität und Persönlichkeit inspirieren zu einer gleichsam religiösen Ergebenheit.“ (S. 56)


Diese „säkulare Priesterschaft“ (S. 59) von KünstlerInnen missfällt ihm sehr. Natürlich gibt es in der Wissenschaft das Rennen darum, der/die Erste zu sein, das spornt aber an, wie McEwan an Beispielen illustriert. Selbst ein Genie wird von äußeren Umständen geprägt, meint Darwin, und McEwan schließt daraus, dass Künstler nur das Instrument seien, auf dem Kultur und Geschichte spielen. Das gilt selbst für Albert Einstein, dessen bahnbrechende Schrift Entwurf er als „intellektuelle Supernova“ bezeichnet.

Auch die Werke von SchriftstellerInnen entstehen in keinem Vakuum, sie bauen bewusst oder unbewusst auf das auf, was vorher da war. Was nun den Einzug des menschlichen Bewusstseins und der Selbstreflexion in die Literatur angeht, thront William Shakespeare „wie ein einsames Figürchen oben auf dem Hochzeitskuchen“ (S. 77), unkt McEwan. Was aber die Individualität in der Literatur angehe, sind erste Ansätze schon bei Platon, Vergil, Dante und vielen anderen vorhanden. Auch Chaucer und Petrarca lassen sich in diese Reihe einfügen, weil sie es schaffen, das Innenleben der geschilderten Personen anzudeuten. McEwan wertet die Essais von Michel de Montaigne (1533-1592) als Durchbruch noch VOR Shakespeares Hamlet (entstanden zwischen 1599 und 1602). Hamlet als die erste literarische Figur gilt, die über ein komplexes Bewusstsein verfügt. „Vor dem Jahre 1600 gibt es kein imaginäres Ich, das sich mit diesem leuchtenden, überragenden Geist vergleichen ließe“ (S. 117), schwärmt McEwan.

Das Sprießen des menschlichen Geistes und seiner Individualität wird aber von Machthabenden und vor allem den Religionen nicht gerne gesehen. Dieses Bewusstsein seiner selbst wird eingeschränkt, wenn der Mensch durch Kriege und Hungersnöte aufs Überleben reduziert wird: „Nichts beschränkt den Geist so sehr wie Furcht und Hunger“ (S. 120), konstatiert er. Trotzdem ging die Entwicklung immer weiter: Für Gustave Flaubert (1821-1880) wurde der Begriff „erlebte Rede“ erfunden; Virginia Woolf (1883-1941) war berühmt für den „Bewusstseinsstrom“ in ihren Schriften.

Viele der entscheidenden Literaten und Literatinnen waren nach McEwans Einschätzung weltliche Geister. Abschließend wendet sich der Atheist McEwan dem Einfluss der Religionen zu. Er hält sie für apokalyptische Bewegungen, die einen weitreichenden Einfluss auf die Politik hätten. Das Christentum habe zum Beispiel nichts zum Bewusstsein auf die eigene Individualität beigetragen, im Gegenteil den Hauptaugenmerk auf das Leiden und das Jenseits gelenkt. Auch heute sei der Glaube an Weissagungen, Endzeitszenarien weit verbreitet und diese „verschiedenen Götter haben sich unauflöslich mit unserer Politik und unseren politischen Meinungsverschiedenheiten verflochten“ (S. 163). Die apokalyptische Geisteshaltung führt zur Dämonisierung anderer Gruppen und insgesamt zur Spaltung. Und die Religion habe insgesamt die Neugier unterdrückt, die für McEwan das „Erkennungszeichen geistiger Freiheit“ (S. 172) ist.

Die Naturwissenschaft habe es nicht geschafft, das apokalyptische Denken in Frage zu stellen, stattdessen haben wir jetzt die Möglichkeit „uns und unsere Zivilisation in weniger als zwei Stunden zu vernichten oder in ein paar Tagen einen tödlichen Virus auf der ganzen Erde zu verbreiten“ (S. 164) (Vorlesung aus dem Jahr 2007). Das Buch endet mit dem Satz, dass uns niemand retten wird, wenn wir es nicht (selbst) tun.

* *

Man muss McEwans atheistische Weltanschauung nicht teilen, um dieses Buch zu schätzen, denn eine Rückkehr auf den Boden wissenschaftlicher Tatsachen, Realitätsbezogenheit und Augenmaß würde uns gut durch die aktuelle und sonstige Krisen führen.


Helga Fitzner - 25. September 2020
ID 12488
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