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Ist der Ruf erst ruiniert… Wer wünscht sich nicht, einfach einmal auszusteigen und sich völlig neuen Dingen widmen zu können? Mit dem Alltagstrott gehen oftmals jedoch auch bequeme Routinen flöten. Und wenn man erstmal keinen Wohnsitz mehr hat, lernt man womöglich ganz neue Perspektiven und Existenzen kennen. Vernon Subutex, ein arbeits- und wohnungsloser Plattenverkäufer um die 50, konnte im ersten Teil von Virginie Despentes' Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex noch zeitweise bei Freunden und Bekannten unterkommen. Im zweiten Teil lebt er nun überwiegend auf der Straße und lernt die Vorzüge und Gefahren abseits der Zivilgesellschaft kennen. Wenn er auf der Parkbank im Delirium sinniert, gefällt ihm die Idee, einfach alles loslassen zu können. Doch es kommt anders als er denkt, und bald steht er wieder im Zentrum einer recht heterogenen Gemeinschaft.

Der zweite Teil der Reihe ist über weite Strecken versöhnlicher, weniger pessimistisch und zynisch als der Vorgängerroman. Die Perspektiven wechseln stetig. Neben Bewusstseinsströmen einzelner, oft windiger Figuren treten andere Sichtweisen, die ebendiese Figur aus ihren höchsteigenen Blickwinkeln wahrnehmen. Der Wechsel der Erzählperspektive verschafft dem Leser stets neue Einsichten, die unvermutete Wendungen im Handlungsverlauf vorbereiten und auf neue Fährten locken. Zu den Figuren aus dem ersten Teil erscheinen neue, nicht weniger interessante Charaktere auf der Spielfläche, deren Gedankengänge stets lustvoll, prägnant, hemmungs- und tabulos gezeichnet werden. Da ist etwa die lesbische Punkrockerin Gaëlle, die aus Angst vor Eisenmangel in Zeiten der Menstruation rotes Fleisch bei einer Fast Food-Kette isst und freiheraus über ihre innere Blutung sinniert:


„Ein Zyklus von 21 Tagen. Albtraum. Sie vermeidet es, sich bei anderen hinzusetzen, sie hat schon diverse Sofas versaut. Wir leben im dritten Jahrtausend, aber sie benutzt die gleichen Binden wie ihre Mutter in ihrem Alter. Es klebt und fühlt sich an wie eine verrutschte Windel zwischen den Schenkeln, aber angesichts der Leistungsfähigkeit von Tampons hat sie keine Wahl, sie braucht beides auf einmal. Was die Tampons angeht, so wird sie wohl die Menopause erreichen, ehe sie begreift, wie man die richtig einführt. Ebenso wenig ist sie imstande, beim Platzieren der Binde richtig zu zielen – immer läuft es an einer Seite raus. Wenn Männer ihre Tage hätten, hätte die Industrie schon lange einen Hightech-Schutz entwickelt, etwas Würdiges, das man am ersten Tag anlegt und am letzten rauswirft, etwas Sauberes, das was hermacht. […] (S. 271)


Der genussvolle Ekel und eine Verkettung politisch bewusst inkorrekter, wilder Assoziationen kommen also nicht zu kurz. Als Leser hat man Teil an einer Freiheit nicht-vorformatierten Denkens, die das Bewusstsein auch für steile Thesen über die Geschlechterdifferenz und die Conditio humana öffnet. Aus der Sicht ebenjener Gaëlle wird auch später das euphorische Gemeinschaftsgefühl beim Tanzen zu Vernon Subutex' DJ-Klängen fesselnd nachvollzogen:


„Sie tanzt. Es ist kollektiv, es ist der Wahnsinn, es wäre bescheuert, sich zurückzunehmen. Sie tanzt nicht, um den anderen zu zeigen, dass sie für ihr Alter noch ganz gut rumschaukeln kann, ihr Becken kreist wie unter Ecstasy, nur dass sie nichts nimmt, und sie spürt, wie der Ton allmählich in ihre Hände eindringt und ihre Nervenverspannung löst; um sie herum sind alle Körper im selben Zustand – sie tanzt, sie hat das Gehirn abgegeben und es widert sie an, das zuzugeben, deshalb denkt sie am nächsten Morgen an etwas anderes, aber sie tanzt, um sich aufrecht zu fühlen, die Fußsohlen verbinden sich mit dem Boden und sie flippt aus, Sterne sausen durch ihren Bauch, als wäre das immer schon ihr Platz gewesen, sie tanzt und denkt dabei an die Toten, sie tanzt mit ihnen, sie tanzt und denkt dabei an alles, was verschwunden und doch immer noch da ist, intakt, ebenso leicht heraufzuholen, wie wenn sie ein Buch aufschlüge und Bilder mit den Tönen, den Gerüchen und jeder Hautpore auftauchen würden, sie tanzt zwischen den Anderen und akzeptiert ihre Anwesenheit, es gibt eine Verbindung zwischen ihnen allen, sie sind glücklich, zusammen zu sein, ebenso schwachsinnig, wie wenn man frisch verliebt ist, nur dass sie hier zu dreißigst sind, und Gaëlle schließt sich ihnen an, ohne nachzudenken, sie sind ein einziger wogender Körper und es gefällt ihnen, da zu sein.“ (S. 279)


Aufgelockert wird die Fortsetzung Das Leben des Vernon Subutex 2 - wie bereits im Vorgänger - durch einen eingebundenen Soundcheck eingeworfener Songtitel und wiederholte kursive Hervorhebung einzelner Worte und Kraftausdrücke. Etwas zu harmonisch, konstruiert und unrealistisch erscheint die in grellen Farben gezeichnete Obdachlosenromantik in der Mitte des Buches, die jedoch bald einigermaßen relativiert wird. Auch einige Zuspitzungen und Wendungen wirken weit hergeholt und unglaubwürdig. Insgesamt ist die Fortsetzung der Subutex-Reihe jedoch aufgrund der ungewöhnlichen Perspektivschwenks, der Vielzahl originell gezeichneter Charaktere und ihrer unvorhersehbaren Sinneseindrücke und Beweggründe ein recht unterhaltsames Lesevergnügen.


Ansgar Skoda - 5. Juli 2018
ID 10789
Link zum Buch: https://www.kiwi-verlag.de/buch/das-leben-des-vernon-subutex-2/978-3-462-05098-1/


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