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Roman

Blackout





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„Da gibt es einen Ort im Herzen eines jeden weißen Menschen an dem der Rassismus wächst und gedeiht; keine weite, offene Ebene, nur ein kleiner Riss. Mehr braucht es nicht.“ (Brandon Taylor, Real Life, S. 203f.)

*

Stell dir vor, du bist weit und breit der einzige afroamerikanische Wissenschaftler an einem College in den USA. Brandon Taylor erzählt seinen spannenden und entlarvenden Debütroman Real Life aus der Perspektive eines Schwarzen alleine unter Weißen. Der Ich-Erzähler Wallace promoviert in Biochemie im Mittleren Westen. Bereits die wissenschaftliche Arbeit ist von großer Unsicherheit geprägt: Experimente können fehlerhaft sein, missglücken oder zu unerwünschten Ergebnissen führen. Es gibt oft befristete oder projektbezogene Verträge. Wallace setzt sich tagtäglich mit missgünstigen oder von seinen Versuchen abhängigen Kollegen auseinander. Dann ist da stets auch der Zeitdruck. Konkurrenzeinrichtungen können im gleichen Forschungsfeld schneller zu Ergebnissen kommen. Als sein Vater stirbt, verlässt Wallace den gewohnheitsmäßigen Arbeitsrhythmus. Ihn droht seine Vergangenheit einzuholen, die er so lange erfolgreich zu verdrängen versucht hat:


„Es kommt eine Zeit, da muss man aufhören zu sein, wer man war, und die Vergangenheit muss bleiben, wo sie ist, erstarrt und unnahbar. Man muss loslassen, um zu überleben. Die Vergangenheit braucht keine Zukunft, sie hat keine Verwendung für das, was noch kommt.“ (S 219f.)


Die eigene Herkunft spielt jedoch sowieso eine Rolle, wenn die Kommilitonen einen stets daran erinnern, dass man aufgrund der eigenen Hautfarbe etwas Besonderes ist. Wallace hat es sich angewöhnt, Gefühle wie Wut und Verzweiflung zu betäuben:


„So viele Probleme auf der Welt, immer und überall gibt es Menschen, die leiden. Wer ist schon glücklich, wirklich glücklich? Was soll man machen? Man kann nur versuchen, seitwärts aus dem eigenen Leben zu rutschen, hinein ins graue Unbekannte.“ (S. 243)


Wallace nimmt sich zurück und frisst Kummer in sich hinein. Er wird korpulent. Vielleicht traut er sich auch nicht seine Homosexualität zu leben, weil es eine zusätzliche auffällige Abweichung von der Norm darstellen dürfte. Der Mittzwanziger möchte nicht den Kürzeren ziehen, wenn er bei weißen Kollegen, Kommilitonen oder Vorgesetzten versteckt rassistische Unfairness anklagen sollte. Er ahnt, dass Kritik am Alltagsrassismus ihnen unangenehm sein dürfte, weil sie eben nicht wie die „Hausmeister und Putzkräfte aussehen“ (S. 276):


„Das Unfairste daran ist, denkt Wallace, dass Weiße alles, was man als rassistisch kritisiert, sofort gegen das Licht halten und es prüfen. Als bezweifelten sie, dass man die Wahrheit sagt, als könnten sie an der bloßen Form einer Aussage erkennen, ob sie rassistisch ist oder nicht. Und natürlich vertrauen sie ihrem eigenen Urteilsvermögen bedingungslos. Das ist unfair, weil Weiße ein persönliches Interesse daran haben, Rassismus herunterzuspielen – sein Ausmaß, seine Intensität, seine Form und seine Folgen. Sie sind der Fuchs im Hühnerstall.“ (S. 108)


Abgründe tun sich auf. Wiederkehrend erleben wir den Protagonisten scheinbar ohnmächtig als Opfer von Anfeindungen. Als Leser ist es sprichwörtlich zum aus der Haut fahren, welchen, indirekt auf seine Hautfarbe bezogenen Anfeindungen Wallace ausgesetzt ist. Es ist erschütternd, wie Wallace es schweigend erduldet, wenn Kommilitonen es sich erlauben, in seiner Anwesenheit seine „Defizite“ zu thematisieren:


„Was Roman meint, ist ein Mangel an Weiße, an Konformität. Dieses Defizit kann niemand je überwinden. Egal, wie sehr Wallace sich anstrengt, wie viel er lernt und welche Fähigkeiten er erwirbt – in den Augen dieser Menschen wird er immer ungenügend sein. Egal, wie sehr sie ihn mögen oder wie rücksichtsvoll sie angeblich mit ihm umgehen.“ (S. 176)


Wenn Wallace es sich traut, auch andere überraschte Gleichaltrige gekonnt vorzuführen, wird er mit geballtem Zorn angegriffen:


„Er hat nicht das Recht, anderen ihr Leben zu versauen. Wir sind hier im echten Leben, Wallace. Verstehst du das? Im echten Leben.“ (S. 256)


Im Verlauf von Real Life erfahren wir, dass Wallace schon als Kind passiv sexuelle Übergriffe erdulden lernte. Es ist schließlich beglückend zu lesen, wie Wallace im Romanverlauf zaghaft und beiläufig versucht, anderen von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen zu berichten. Den bequemsten Weg geht er auch nicht mit dem Stipendiaten Miller, der sich im Romanverlauf in ihn verliebt. Wird Wallace auch hier in die Opferrolle gehen und Gewalterfahrungen stoisch hinnehmen? Brandon Taylors vielschichtiges, vielversprechendes und feinfühliges Romandebüt schaffte es verdientermaßen 2020 auf die Shortlist für den britischen Booker Prize.


Ansgar Skoda - 11. Juli 2021
ID 13027
Piper-Link zu Real Life von Brandon Taylor


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