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nachDRUCK # 2

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Roman

Flüsse des

Körperlichen

und des Geistigen





Bewertung:    



„Meine Mutter war zeitlebens eine Leserin, sie hatte immer Bücher um sich, nur konnte sie an allem, was ihrer Idee von der Schönheit zuwiderlief, vorbeilesen. Sie nahm es auf, aber nicht wahr. Oft las sie ganze Tage in dem Appartement mit dem Flur vor der Tür, auf dem sie ihre Gänge machte, saß vollständig angezogen und mit ihrer perlgrauen haubenartigen Perücke in einem Ohrensessel, das Buch in beiden Händen. Solange sie noch las und auch Briefe schrieb, traf ich sie mit einem Buch an – zwischen den nicht recht häufigen Besuchen lagen oft mehrere umfangreiche Bücher, darin ihre Bleistiftunterstreichungen – und jedes Mal schloss sie den Sohn in die aktuelle Lektüre mit ein, als wäre er eine der Figuren des Romans oder hätte daran mitgeschrieben oder könnte für das eigene Schreiben daraus lernen.“

(Bodo Kirchhoff, Dämmer und Aufruhr, S. 237-238)


*

In langen und geschliffen durchkomponierten Sätzen erzählt Bodo Kirchhoff in seinem 480 Seiten starken Roman Dämmer und Aufruhr über seine Jugend, seine Eltern, die eigene Internats- und Studierendenzeit, aber vor allem auch darüber, wie er zum Lesen und Schreiben kam. Der mittlerweile 70jährige Schriftsteller gilt als großer Erzähler in der Gegenwartsliteratur. Kirchhoff veröffentlichte bei namhaften Verlagen wie Suhrkamp zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Drehbücher. Zu seinen Auszeichnungen zählt 2016 der Deutsche Buchpreis für den Roman Widerfahrnis. Doch schon seine Mutter Evelyn Peters, in jüngeren Jahren eine Schauspielerin an Theaterhäusern wie dem Wiener Burgtheater, war eine schaffensfreudige Autorin und veröffentlichte über zwei Dutzend Romane. Die ambivalente Beziehung zur schreibenden Mutter wird in Dämmer und Aufruhr ebenso beleuchtet, wie die zum Vater, dem kreativen Erfinder, der als Soldat im Krieg ein Bein verlor.

Direkt nach der Grundschule wird Bodo von den Eltern in einem Internat untergebracht. Er und seine jüngere Schwester sehen ihre Eltern fortan nur noch in den Internatsferien. Kirchhoffs Eltern, geprägt durch die Entbehrungen des Krieges, trennen sich in den 1950er Jahren. Während der Vater in Stuttgart lebt, zieht die Mutter nach Frankfurt. Seine Mutter bringt ihm während gemeinsamer Urlaube bei, sich wie ein Kavalier zu benehmen. Wenn er bei ihr ist, genießt er die körperliche Nähe zu ihr, etwa wenn sich beide zusammen nackt sonnen. Schon früh fasziniert Bodo das Sinnliche, Körperliche und die Erotik. Auf dem Internat wird er als Kind bald von seinem Musiklehrer und Förderer, den er als Bezugsperson lieben lernt, sexuell missbraucht. Kirchhoff beschreibt die missbräuchlichen sexuellen Erfahrungen in seinem Roman, ohne anzuklagen. Sexualität spielt fortan, auch später in seinem künstlerischen Werk, eine tragende Rolle für ihn. Später wird ihn das eigene sexuelle Begehren zu Prostituierten in das Frankfurter Bahnhofsviertel führen, aber auch hin zu kreativen Entdeckungssuchen in der Malerei und im Schriftstellerberuf.


„Nur waren es meine Bilder, auf denen sich der Befreiungskampf mit Bleistift und feinem Pinsel abspielte, hin zu grenzenlosem Körperlichsein, zu Mann und Frau, die ineinander übergehen, zur Aufhebung jeder Einsamkeit der Haut auf dem Malkarton oder der Leinwand…“ (S. 354)


Kirchhoff verwebt drei Zeitebenen, zwischen denen er hin und her springt. Da ist einmal die Rahmenhandlung, in der er seine Erinnerungen verschriftlicht. Hier befindet er sich in einem Hotelzimmer in Italien, in dem seine Eltern ihre letzten glücklichen Tage zusammen verbrachten. Dann ist da die Zeit als Heranwachsender, die das Hauptaugenmerk des Romans füllt. Schließlich werden auch wiederkehrende Besuche im Pflegeheim seiner Mutter und einhergehende erhellende, traurige oder beglückende Begegnungen mit ihr beschrieben. Fotos und selbst gemalte Bilder – im Roman detailliert geschildert, jedoch nicht dargestellt – befeuern Kirchhoffs Erinnerungen.

Es berührt, wie Kirchhoff dem jüngeren Selbst und seinen Schwächen stets liebe- und verständnisvoll begegnet, wenn mal ein „ich“ berichtet und mal von einem „er“ erzählt wird. Gleichzeitig versucht Kirchhoff auch mit den vielbeschäftigten Eltern, die sich oft zu wenig für ihren Sohn interessierten, Frieden zu schließen. Wie Kirchhoff mit der Sprache ringt, ist oft poetisch. Deutliche Längen hat der Roman, wenn der Autor über viele Seiten in seiner Jugend gesehene Filme oder gelesene Bücher aufzählt. Man gewinnt zuweilen auch den Eindruck, dass Lebensphasen, wie abenteuerliche Auslandsreisen im Erwachsenenalter, im Nachhinein etwas überhöht und beschönigt wurden. Doch auch die Schattenseiten einer Ichbezogenheit werden insbesondere gegen Ende aus einem lebenserfahrenen Blick eindringlich beleuchtet. Als besonderes Schmankerl des Romans bleibt schlussendlich in besonderer Erinnerung, wie der wissbegierige, noch sehr junge Bodo durch seine Wiener Großmutter die eigene Sprache ganz neu erkundet:


„Ein Feudel, so hätte mein Verzeichnis anfangen können, ist ein Lappen, und Poschen sind Hausschuhe; der Römmel ist ein Popel, und Polken ist das Nasebohren. Zippi heißt das Geheimste beim Mädchen, Schwaffl das beim Buben und der Halbschlaf im Sessel heißt bei ihr Tunken, ferner ist Urschel eine blöde Kuh, Hermper die große Nase, dährisch ist schwerhörig, und Hatschen mein langsames Gehen. Lulatsch heißt jeder ab eins achtzig, Nachtkastel jedes kompakte Kind, und ein mageres ist und bleibt ein Krischpirdel, dagegen jedes dicke Mädchen eine Plunzen; weniger nett aber das Wort mirchdeln, gemeint ein Ausdünsten als gesamte Person, und ebenso unfreundlich der Ausdruck HabedieEhre, eine klare Abfuhr, während Abpfirten die Zeremonie der Verabschiedung meint, das Kreuzerlmachen, auf das man sich wiedersehe.“ (S. 78-79)


Ansgar Skoda - 30. November 2018
ID 11072
Link zum Buch: https://www.fva.de/Buecher/Neuerscheinungen/Daemmer-und-Aufruhr.html


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