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Hašek-

Biografie





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Wer kennt ihn nicht, den braven Soldaten Schwejk? Klein, dicklich, mit roten Bäckchen in blau-grauer Uniform, verlottert, listig, aber gutmütig unter der Schirmmütze hervorlugend, einen Bierkrug in der einen, die Pfeife in der anderen Hand. Das ist das Bild, das der Illustrator Josef Lada von Schwejk gezeichnet hat und das seither auf vielen Buch- und Bierdeckeln prangt. Kein Prag-Reisender entkommt ihm.

Schwejk ist der Überlebenskünstler, der jegliche Autorität so wörtlich nimmt, dass sie an ihm scheitert und sich selbst der Lächerlichkeit preis gibt:


“'Schwejk, Jesusmaria, Himmelherrgott, ich erschieß Sie, Sie Vieh, Sie Rind, Sie Ochs, Sie Idiot, Sie. Sind Sie blöd?'
'Melde gehorsamst, ich bin blöd, Herr Oberlajtnant.'
'Warum haben Sie mir einen gestohlenen Hund gebracht, warum haben Sie mir diese Bestie in die Wohnung gesetzt?'
'Damit ich ihnen eine Freude mache, Herr Oberlajtnant.'
Und Schwejks Augen schauten gutmütig und sanft dem Oberleutnant ins Gesicht, der sich setzte und seufzte.“



Wer aber kennt schon Jaroslav Hašek, seinen Erfinder? Dabei hat der Autor mit seiner Figur Schwejk einiges gemein, auch wenn sie keineswegs identisch sind. Hašeks wechselvolles Leben, seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und den anschließenden 1920er Jahren sind jedoch in den Schwejk und sein Personal eingegangen, zugespitzt, aber auf durchaus realer Grundlage. Darüber geben Rolf Cantzen und Bodo Dringenberg [in Biere, Tiere, Anarchie] spannend Auskunft. Was für ein Stoff! Ein Muss für alle Prag-Liebhaber und Schwejk-Fans, die mehr wissen wollen, als in touristischen Werbetexten steht.

Schon als Schüler rebelliert Hašek gegen die Autoritäten seiner Zeit: Religion, Staat, Kapital. Er fliegt aus der Schule, weil er Standrechtsaufrufe von den Wänden reißt, mit denen demonstrierende Arbeiter eingeschüchtert werden sollen. Man wirft ihn aus der Drogistenlehre, weil er aus Sympathie für streikende Bäcker den roten Unterrock des Dienstmädchens aus dem Fenster hängt. Nirgendwo hält er es lange aus. Wenn er nicht entlassen wird, bricht er Ausbildungen ab, verlässt seriöse Arbietsplätze und desertiert nacheinander aus drei Armeen. Seine Ehe geht zu Bruch, obwohl sich Hašek um des häuslichen Friedens willen bemüht, ein regelmäßiges Leben zu führen. Das heißt in seinem Fall, die Kneipen ebenso zu meiden wie die Versammlungen der Anarchisten - und genug Geld zu verdienen. Schreiben, das kann er, auch dank eines phänomenalen Gedächtnisses.

Er verdingt sich also als Redakteur der Zeitschrift Welt der Tiere, deren mageren Absatz er steigern soll. Schließlich ist schon der junge Hašek als satirischer Autor einigermaßen bekannt. Doch seine Kreativität geht mit ihm durch. Er erfindet einfach: den Schwefelbauchwalfisch, den durchtriebenen Seehirsch, das lederschuppige Einhornkalb, den Urgebirgsfloh, über dessen Entdeckung der Redakteur eines ausländischen Magazins so glücklich ist, dass er ihn übersetzen und publizieren lässt. Hašek führt sogar zoologisches Fachpublikum irre, bis er es zu weit treibt. Auch seine unterhaltsamen Gerichtsreportagen sind wenig zuverlässig, unbekümmert korrigiert er die Wirklichkeit, meist auf Kosten der Polizei und der Gerichtsbarkeit: fake news, die seinen Lesern gefallen, ihn aber irgendwann wieder mal den Job kosten.

Sein politisches Engagement ist durchaus ernsthaft, trägt aber häufig parodistischen Charakter wie die Gründung der „Partei des maßvollen Fortschritts im Rahmen der Gesetze“. Hašek verhält sich im Alltag chaotisch, behält jedoch in gefährlichen Situationen einen erstaunlich kühlen Kopf. Man zeichnet ihn aus - wegen Tapferkeit. 1918 wird er Mitglied der tschechoslowakischen Sektion der kommunistischen Partei, aufgrund seines Organisationstalentes (wer hätte das gedacht!) Kommandant der Stadt Bugulma und Mitglied des Stadtsowjets von Irkutsk, dann in den Wirren des Bürgerkrieges wegen Hochverrats angeklagt. Mehrfach entgeht er knapp der Hinrichtung. „In mein Vaterland zurückgekehrt erfuhr ich, dass ich dreimal gehenkt, zweimal erschossen und einmal von wilden aufständischen Kirgisen … gevierteilt worden war.“

In Prag löst er sich von den Bolschewiki und gibt jegliche politische Arbeit auf. 1921 bricht er nach Lipnice auf, einem kleinen Bergdorf südlich von Prag. In der Gaststätte „Zur tschechischen Krone“ beginnt er seinen Schwejk. Er kann ihn nicht mehr vollenden. Der Schluss bleibt offen, als er mit 39 Jahren stirbt, wohl auch an den Folgen seines übermäßigen Bierkonsums. Ein happy end gibt’s für den Schwejk nur in der „Vollendung“ des Romans durch den Journalisten Karel Vanjek und im Film - wo man sich dann wieder trifft, „nachm Krieg, um sechs Uhr abends“. Der Schwejk in der Darstellung von Heinz Rühmann ist – charakteristisch für die 1960er Jahre - ein Sturz in die sog. Gemütlichkeitsfalle.

Cantzen und Dringenberg beleuchten denn auch sehr anschaulich den Gang der Rezeptionsgeschichte des Schwejk bis hin zur völligen Verharmlosung. Der Roman gilt inzwischen als der erfolgreichste und am häufigsten übersetzte tschechische Text. Literaturgeschichtlich wird er neben Karl Kraus´ Die letzten Tage der Menschheit verortet, eine der ersten großangelegten Textmontagen im mitteleuropäischen Raum. Parallelen zeigen sich auch zu Franz Kafka, Haseks Zeitgenossen. Ähnlich wie das „Kafkaeske“ Eingang in den deutschen Wortschatz fand, wurde das „Schwejkeln“ in die tschechische Umgangssprache aufgenommen. Doch wo bei Kafka die Macht letztlich undurchschaubar bleibt, wird sie bei Hasek zur Kenntlichkeit karikiert. Der Schwejk ist – so sieht man es heute - ein höchst moderner Roman voller Brüche, auch deshalb, weil er keinen veritablen Helden hat. Schwejk ist keine reale Figur, kein Vorbild. Aber er ist unverletzlich und deshalb unsterblich.

Doch er, der „amtliche Idiot“, verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes eine Haltung, die heute wieder aktuell sein müsste – nämlich, sich zu verweigern und seine Integrität zu wahren in Zeiten des Wiederauflebens autoritäter Dummdreistigkeit.


Petra Herrmann - 12. Juni 2018
ID 10751
Link zum Buch: https://www.launenweber.de/lw-shop/portrait/biere-tiere-anarchie/


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petra-herrmann-kunst.de

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