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nachDRUCK # 2

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Roman

Trügerische

Sicherheit





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Geschafft! Die vormals freie Hebamme Fräulein Hulda Gold hat aufgrund ihrer guten Ausbildung und Erfahrung eine Stellung in der modernen Berliner Frauenklinik in der Artilleriestraße ergattert. Das bedeutet zwar eine Einbuße an Selbständigkeit, aber mehr Sicherheit, denn das Vertrauen in die Zukunft ist allgemein erschüttert. Doch im Sommer 1924 scheint die Welt ausnahmsweise verhältnismäßig in Ordnung zu sein. Nach der Hyperinflation im vergangenen Jahr und der Einführung der Rentenmark ist die Währung wieder beständiger. Trotzdem ist das Elend nach dem Großen Krieg immer noch spürbar und der Druck wegen der immensen Reparationszahlungen groß, die Deutschland an die Alliierten zahlen muss.

Doch schon gleich am ersten Arbeitstag ist Hulda schockiert. Die Hebammen in der Klinik dürfen die Geburten nur vorbereiten, aber die Kinder nicht selbst auf die Welt holen. Das dürfen nur die Ärzte, denn die Klinik ist eine reine Männerdomäne. Das ist zu viel für die versierte Geburtshelferin, die schon einige komplizierte Fälle bewältigt hat. So will sie nach einer Woche schon fast wieder das Handtuch werfen, wenn sie nicht vom medizinischen Fortschritt und den erweiterten Möglichkeiten dort so fasziniert wäre. Hier kann Frauen und Neugeborenen geholfen werden, die im häuslichen Umfeld kaum eine Überlebenschance hätten. Diese Fälle sind allerdings unerreichbar für Hulda, denn als Frau ist sie nur Handlanger, und Wertschätzung gibt es keine. Sie kann die Zustände kaum ertragen. Die Schwangeren müssen in der ungünstigsten Position, auf dem Rücken liegend, gebären, während rund zehn Männer, darunter Studenten der Medizin, ihnen während ihrer höchsten Not zwischen die Beine schauen und auch noch nacheinander mit ihren groben und ungeschickten Händen in der Vagina herumtasten. Auch kommen die Säuglinge in ein Säuglingszimmer, damit die Mütter ihre Ruhe haben. Von der wichtigsten Phase nach der Geburt, in der die Bindung zwischen Mutter und Kind entsteht, wissen die Götter in Weiß herzlich wenig. Doch Hulda bleibt schweren Herzens da, obwohl dort Empathie und Menschenwürde völlig auf der Strecke bleiben und als „Verschwesterung mit den Gebärenden“ (S. 22) verpönt sind. Denn:


„... wie so oft schon war, sobald alles stabil wirkte, die nächste Katastrophe über die Menschheit hereingebrochen, die alle Gedanken an Freiheit wieder wegwischte. Da musste nur... (eine) Inflation... oder eine neue Seuche auftauchen wie vor wenigen Jahren diese furchtbare Spanische Grippe, und dann kehrten sich die hehren Absichten, die Menschen von der Kandare zu lassen, wieder um ins Elend. Dann regierten wieder Angst, Missgunst, Totalitarismus.“. (S. 136)


So greifen die Menschen das Leben beim Schopf, solange die Ruhe währt. Freizeitvergnügungen haben Hochkonjunktur, die Veranstaltungsorte, wie Tanzbars, Konzertsäle und Lichtspieltheater überschlagen sich mit Angeboten, die auch von Hulda und ihrem Freund, dem Kriminalkommissar Karl North, bei ihren seltenen Gelegenheiten zur Zweisamkeit wahrgenommen werden. - Auch die Treffpunkte für Männer mit gleichgeschlechtlicher Zuneigung werden immer mehr, obwohl der Paragraph 175 solche Begegnungen immer noch unter Strafe stellt. Aber die NSDAP ist verboten, deren Schlägertrupps die Stadt unsicher gemacht hatten, und Hitler ist hinter Schloss und Riegel. Und so pulsiert in übersteigerter Erregung das Leben in Berlin, sodass sich sogar Huldas väterlicher Freund, der Kioskbesitzer Bert, auf eine Männerliebe einlässt, obwohl er ein mulmiges Gefühl dabei hat. Offiziell kommt seine Neigung aber selbst in Gesprächen mit Hulda nicht vor. Das ist nichts, worüber man spricht, und immer noch gefährlich. Derzeit arbeitet Karl in seiner Mordkommission an den Fällen eines Serienmörders, der sich auf die Tötung solcher Männer fixiert hat.

Je länger Hulda in der Klinik arbeitet, desto mehr erhärtet sich der Verdacht, dass einer der Ärzte heimlich ein umstrittenes Medikament an einigen der Schwangeren ausprobiert. Es sind in der letzten Zeit einige Frauen unerklärlicherweise an unstillbaren Blutungen verstorben, und Hulda versucht herauszufinden, ob da ein Zusammenhang besteht. Mit Karl kann sie darüber aber nicht mehr reden, denn sie beiden haben sich nach einer heftigen Auseinandersetzung getrennt. Karl wuchs von Geburt an in einem Waisenhaus auf und trägt sehr schwer an dieser Vergangenheit und an sich selbst. Mittlerweile ist er auch noch alkoholabhängig, was ihn als Ehemann und Familienvater nicht gerade qualifiziert. Wie alle wünscht Hulda sich ein leichteres Leben. Sie hatte zwar keine Kindheit im Elend wie Karl, aber ihr Vater hat die Familie früh verlassen und ihre Mutter beging Selbstmord. Da kommt ihr die Zuwendung des jungen Assistenzarztes Johann Wencke gerade recht, der aus wohlhabenden und wohlbehüteten Verhältnissen stammt und von unbeschwerter Natur ist. Und es ist diese Leichtigkeit, nach der sich Hulda sehnt.

*

Fräulein Gold – Der Himmel über der Stadt sollte ursprünglich der dritte und letzte Teil einer Trilogie der Germanistin, Pädagogin und Autorin Anne Stern sein. Beim Lesen merkt man aber schon, dass sich die Handlung zu keinem endgültigen Abschluss hin entwickelt.

Der Verlag und die Autorin haben einen vierten Teil für Dezember 2021 beschlossen. Das ist ein bisschen schade für die Leserschaft, die Mehrteiler nicht mag, die sich bis zu einem unbekannten Ende hinziehen. Der Erfolg der beiden ersten Teile Fräulein Gold – Schatten und Licht sowie Fräulein Gold – Scheunenkinder gibt dem Verlag allerdings recht. Leider wirkt durch diese Entscheidung der dritte Teil etwas gestreckt. Der Klinikalltag wird sehr ausführlich geschildert und erinnert manchmal an Arztromane mit Affären und wiederholten Hahnenkämpfen zwischen den Karrieristen, während die Figuren, die in den beiden ersten Bänden so gut funktioniert haben, etwas zu kurz kommen, was insbesondere für Karl North gilt. Sehr auffällig wird diese Verkürzung bei Bert, der nach einer Nacht im Schwulentreff bei einer Razzia festgenommen wird. Er taucht über Hunderte von Seiten kaum mehr auf, und wir erfahren nichts über seine Zeit im Gefängnis. Es sieht so aus, als ob mit diesen attraktiven Protagonisten sparsam umgegangen wird, um noch genug Spannendes für den nächsten Band zu haben, während Alltägliches, wie Huldas Arbeit im Garten ihrer Zimmerwirtin u. Ä. viel zu langatmig geraten.

Atmosphärisch hat Stern dann doch wieder ins Schwarze getroffen. Die Frauenverachtung, der Antisemitismus, die Homophobie, das Trügerische der Ruhe, (denn die Leserschaft weiß ja, dass das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg noch bevorstehen), vor allem aber die Schilderung der Sehnsucht der Menschen nach Frieden, Freiheit und Sicherheit kommen sehr empathisch herüber.

Im Nachwort erläutert Stern noch Einzelheiten, was das Krankenhaus betrifft. Es handelt sich um die II. Universitäts-Frauenklinik, die an Kompetenz durchaus mit der berühmteren Charité konkurrieren konnte. Sie existiert nicht mehr und die Artilleriestraße wurde in Tucholskystraße umbenannt. Die alte Bausubstanz ist heute Teil des Forums an der Museumsinsel.


Helga Fitzner - 21. April 2021
ID 12869
Rowohlt-Link zu Fräulein Gold - Der Himmel über der Stadt


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