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Feinfühlige
Analysen mit
lehrerhaftem
Unterton
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Bewertung:
Das geeinte Deutschland existiert mittlerweile fast so lange wie es die DDR als Einzelstaat gab. Dennoch, die Unterschiede zwischen Ost und West sind nicht wegzudenken; der Osten hinkt hinterher, die Einkommen sind geringer. Aber es sind nicht nur die sozialen Unterschiede, die hier wirken, der Osten wird vom Westen immer noch als Anhängsel zur Bundesrepublik gesehen, "Deutschland einig Vaterland" ist sich bis heute wenig einig.
Alexander Prinz ist Nachwendekind, hat die DDR nicht mehr erlebt. Er ist in Sachsen-Anhalt in einem kleinen Dorf aufgewachsen und hat die Veränderungen in seiner Heimat beobachtet:
"Meine Heimat blutete aus – allein 1989 und 1990 hatte sie 800 000 Menschen verloren. Wie viele von ihnen hätten lieber bleiben wollen? Die Jahre darauf nahmen die Verluste kontinuierlich ab. Wer blieb hatte oft einen Plan, eine Hoffnung – eine Idee – oder wollte nicht aufgeben. Doch die 90 er hielten nicht, was sie versprachen. Die blühenden Landschaften waren immer noch karg. 2001 kam es erneut zu einem Negativrekord in Sachen Abwanderung. Über 190 000 Menschen gingen in den Westen, weil der erhoffte Aufschwung Ost ausblieb. Zurück blieben vor allem in strukturschwachen Regionen die Alten und viele Männer. " (Oststolz, S. 38)
Wer heute über Land durch Sachsen-Anhalt fährt, sieht neben modernen Windrädern verödete Dörfer ohne Geschäfte. Wie oft oder ob überhaupt ein Linienbus zu diesen Orten verkehrt, ist fraglich. Die Dankbarkeit, die viele Wessis von ihren Ostkollegen immer noch erwarten, wirkt vor diesem Hintergrund zynisch. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es kein homogenes Deutschland. Die Ungleichheit geht heute aber keineswegs auf die unterschiedlichen politischen Systeme in der Vergangenheit zurück.
"Wenn es also um den spürbaren kulturellen Einfluss der vierzig Jahre deutscher Teilung auf uns Nachwendekinder geht, dann manifestierte er sich - und das kann ich nicht genug betonen, weil es so oft von außen missverstanden und fehlinterpretiert wird - paradoxerweise eben nicht durch die direkte Übernahme der DDR-Ideologie, sozialistischen Werten oder spezifischer Alltagskultur. Sondern vor allem indirekt: durch die Flucht in die Fantasie, in Fiktionen, in Märchenwelten, in die tiefen, oft mythisch verklärten Schichten der lokalen und deutschen Geschichte – Nischen, die schon zu DDR-Zeiten als relativ unpolitische Rückzugsräume gedient hatten." (S. 72)
Und natürlich kann dieses in rechtes Gedankengut gipfeln, die Erfolge der AfD im Osten bezeugen dies. Allerdings führt Prinz hierfür ein anderes Kernargument an. Er sieht im absoluten Vertrauensverlust in die Politiker und ihre Parteien den Grund für viele Wähler, einen Machtwechsel, mit welchen Konsequenzen auch immer hinzunehmen.
Diese detaillierten Analysen, die Beobachtungen und eigenen Erfahrungen, gekonnt verflochten mit Statistikmaterial, sind beeindruckend und regen zum intensiven Nachdenken an. Es ist eben ein Unterschied, ob die finanzielle Situation der Eltern und die später zu erwartende Erbschaft jemanden kreditwürdig macht oder ob die meisten in einem Osthaushalt aufgewachsenen Menschen eben nicht über einen solchen finanziellen Puffer verfügen. Sicher ist es auch richtig, diesen Sachverhalt nicht allein als Ausrede für eine gescheiterte Karriere oder einen unterbezahlten Job zu sehen.
Prinz ermuntert jeden sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, zu wagen, zu riskieren, um am Ende hoffentlich zu gewinnen. Dafür steht er als lebendiges Beispiel, ein erfolgreicher Ossie mit eigenem YouTube-Kanal und jede Menge Followern. Selbst Corona konnte ihn nicht langfristig ausbremsen. Natürlich hat Prinz für seinen Erfolg hart gearbeitet, doch wie viele Menschen, gerade im Osten, haben dies auch getan und dennoch verloren. Von ihnen hören wir nichts, und kein großer Verlag wird ihnen ein Buchprojekt über dieses Thema anbieten. Prinz liefert mit seinen Followern dem Verlag eine hervorragende Werbemöglichkeit, die diesen nichts kostet. Und so prangt es mal wieder auf dem Cover, der Aufkleber Spiegel Bestseller.
Es gehört schon eine gehörige Portion Glück dazu, zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort zu sein, die Chance zu erkennen und diese in Erfolg umzumünzen. Ein von Hause aus schüchterner Mensch wird dieses nicht können, anderen fehlt der Mut in unbekanntem Terrain zu kämpfen, und wieder andere vermissen einfach den Antrieb und die Idee für einen vielleicht gelungenen Start. Nicht jeder ist an seinem Schicksal allein schuld, was Prinz zwar nicht explizit behauptet, aber hintergründig doch zu verstehen gibt. Wollen wir hoffen, dass seine Impulsivität und sein Mut neue Wege zu gehen andere ansteckt und junge Menschen, insbesondere im Osten, zu neuen Aktivitäten verleitet statt die Flucht in eine Traumwelt anzutreten.
Ellen Norten - 12. Dezember 2025 ID 15605
Droemer Knaur-Link zum Sachbuch
Oststolz
Post an Dr. Ellen Norten
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