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Roman

Fisch

an Land





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Henry Miller? Ja, es war wohl Miller, der einst schrieb, alle künftige Literatur müsse autobiografischen Charakter aufweisen. Recht hatte er. Oder sagen wir so: Allmählich beginnt er, Recht zu haben. Denn genau das ist der Eindruck, den nicht nur der Roman Serotonin von Michel Houellebecq vermittelt. Natürlich ist das keine Autobiografie im strengen Sinne, sagen wir, es ist eine unorthodoxe Rollenprosa. Ein Buch, das im übrigen verdammt anders klingt als die bisherigen Bücher von Houellebecq. Man könnte die These wagen: Allmählich kommt der alte Herr zu sich. Houellebecq hat sich frei geschrieben, der ganze Hass und die Wut und die Verzweiflung klingen allmählich ab, was nicht bedeutet, dass dieser Text harmlos wäre. Alles, nur nicht das. Aber doch ist dies hier ein geläuterter Erzähler. Zuallermeist sogar sanft und weise und ganz ohne Sarkasmus. Einer, der den Schaum vor dem Mund abgewischt hat; der zwar nicht lächelt, aber doch sehr entspannte Gesichtszüge zeigt.

Houellebecq spricht von Liebe ohne zynische Anwandlungen. Und was er sagt, ist großartig. So kennt man ihn nicht. Verständnisvoll spricht er von den Menschen, die ihm auf der Straße begegnen. Luzide. Voller Klugheit. Er erzählt von Drogen und von der armseligen Spießigkeit der Arbeitswelt und natürlich von der Verlogenheit, ohne die nichts geht. Von Umweltverschmutzung, vom Kartell der Medien und von der Beiläufigkeit der Heuchelei, vor allem wenn es um Sex und Geld geht. Und ja: Man muss das mögen, aber auch wenn man es nicht mag, wie dieser Autor denkt, so ist es doch auf eine unnachahmliche Weise, sagen wir: informativ. Weil dieses Buch darüber Auskunft gibt, Achtung, großes Wort, was die Welt zusammenhält. So kann man in diesem Roman eine ganze Menge Wirklichkeit entdecken. Es ist ein verschrobener und sensibler Intellektueller, dieser französische Autor, der so spricht, als hätte er alle Verzweiflung und Einsicht der Jahre destilliert in wenige hundert Seiten starke Prosa. Ach, dass es sie noch lange gebe, Intellektuelle wie Houellebecq, denn alles sieht schwer danach aus, dass sie von den Rhetorikern und den Heinis der Kulturindustrie, diesen smarten Selbstdarstellern, die sich in öffentlichen Foren über Aussagen wie diese hier beschweren, endgültig verdrängt werden. Dass sich der Geist, was für ein schönes Wort, zurückgezogen hat und ganz aus dem Diskurs verschwunden ist. Heute gehört Houellebecq in diesem Sinne zu einer aussterbenden Spezies, denn geistlos, so könnte man diesen Roman zusammenfassen, grobkörnig und hemdsärmelig, ist unsere Zeit und jedenfalls nicht zu retten, wenn das bedeuten würde, das Ruder noch einmal herumzureißen.

Bekanntlich gibt es viele Gründe, weshalb Menschen zur Literatur greifen. Etwa ästhetische, man begehrt das Schöne. Oder man sucht die Unterhaltung, die Spannung. Vielleicht erhofft man sich Erkenntnisse. Wer den Hang hat, Bücher zu lesen, um etwas über die Welt zu lernen, kommt an diesem Text nicht vorbei. Ein Buch, das den Zeitgeist umreißt. Also: Lassen wir den literaturtheoretischen Diskurs (nicht, dass er schon begonnen hätte) - kürzen wir den Punkt ab: Es gibt das Bedürfnis, aus Büchern zu lernen, wie die Welt funktioniert. Das ist ein banaler Reflex, geradezu selbstverständlich, man schämt sich fast, das zu schreiben. Aber, jetzt kommts: Diese scheinbare Banalität steigert sich bei Lektüre dieses Romans von Seite zu Seite zu einer geradezu penetranten Vermessenheit, die sich auch noch, jedenfalls im Fall des Rezensenten, als wahrhaftige herausstellt. Im Klartext: Houellebecq hat einen Roman geschrieben, der abbildet, was die Welt heute bewegt.

Das Besondere dieses Romans ist also seine kognitive Schlagseite. Ohne um den heißen Brei zu reden, ohne Begriffsklauberei, ohne Theorie (was gar nicht verkehrt gewesen wäre, der heutige Leser wird über Gebühr geschont, alles Vertrackte wird herausgekürzt, den Menschen wird intellektuell nichts mehr zugemutet, das schlagende Argument dieses modernen Antihumanismus ist ein lapidarer Satz in der Art „Wir sind hier nicht in einer Seminarveranstaltung.“ - Dazu ist zu sagen: Wer einmal in einer Seminarveranstaltung war, der weiß: Ach Gott, das bedeutet nicht viel!

Dieser Roman ist eine Summe. Er vermag es vielleicht, ein Leben zu verändern. Vor allem aber zeigt er auf, welches die wesentlichen Bruchlinien unserer Existenz sind. Dabei ist der Erzähler empfindsam und klug zugleich. Über die Maßen menschenklug - wenn es das gibt. Houellebecq ist ein veritabler Denker, wenn das nicht so kichernd klingen würde, und sein Roman eine Geschichte, die nicht mit Poesie punktet. Sein Motto lautet hingegen: Wie ich die Welt sehe. Und das ist spannend und lehrreich genug. Dazu braucht er keine Poesie. Dennoch schreibt dieser Autor ganz hinreißend über die Liebe als unseren zentralen Daseinsmotor. Dabei kann per definitionem keine menschliche Gesellschaft einen originären Zugang zu diesem Phänomen besitzen. Denn die Liebe ist ein Problem, zu dem es keine Lösung gibt. Die Liebe ist ein ungelöstes, ein unlösbares Menschheitsproblem. Es liegt in ihrer Natur. Es liegt in unserer Natur. Das Problem „Liebe“ zu lösen, das wäre in etwa so, als wollte ein Fisch das Sauerstoff-Problem lösen. Er ist schlichtweg dazu gemacht. Es ist seine Seins-Dimension. Auch der Ich-Erzähler des Romans ist ein gescheiterter, was das betrifft. Heißt: Einer, der das Problem lösen wollte. Der sich an einem Leben mit Kiemen außerhalb von Wasser versuchte. Der sozusagen die Transsubstantiation eines liebenden Luftausgleichs an Land erprobte. Natürlich vergeblich. Aber was soll man machen? Nur im Wasser kann der Fisch atmen. Jenseits von Eden gewissermaßen. Doch frei atmen, wie sagte der Weimarer, macht das Leben nun mal nicht allein. Was also den Versuch betrifft, wenigstens einen gewissen kapriziösen Romantizismus zu leben, ohne die Erdenschwere zu verleugnen, so gelingt ihm das natürlich nicht einmal im Ansatz. Und was folgt daraus? Der Erzähler nimmt die Dinge einfach hin, wie sie sind - auch wenn diese Ethik zwischen Banalität und Größenwahn schwankt. So gelingt es ihm, in dieser künstlichen Gelassenheit des Serotonins, die Dinge endlich auf den Punkt zu bringen, ungeschminkt, überhaupt nicht zynisch oder aggressiv. Stattdessen gewinnt er den Menschen seiner Umgebung sogar Gutes ab, die Welt erscheint fast in einem milden Licht. Und so gelingt Houellebecq ein tatsächlich epochales Stück Literatur. Dieses Buch bleibt, jede Wette. Oder sagen wir es doch pathetisch: Dies ist einer der besten Romane über Weltbilder. Kein Wunder, dass man nur stammeln kann.


Jo Balle - 13. März 2019
ID 11278
Link zum Verlag: http://www.dumont-buchverlag.de


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