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Biografien

Frau

Wagenknecht

Entwicklung,
Überzeugung
und Kritik der
Linkspolitikerin




Die fortwährenden Personaldebatten der beiden Regierungsparteien beweisen es: Parteien brauchen Politiker, die nach außen gewinnend auftreten können. Es braucht Menschen, die ihr Herzblut in die Politik legen. Sahra Wagenknecht gilt als Ikone, Politstar und vielleicht bekanntestes Gesicht der deutschen Linken. Die 50jährige will die Gesellschaft gerechter, die Wirtschaft transparenter und effizienter, das Leben der Menschen lebenswerter machen. Auch als Theoretikerin, Intellektuelle und Autorin möchte sie die Welt mit realisierbaren Theorien und Utopien einer sozialistischen Marktwirtschaft praktisch verändern. Die promovierte Volkswirtin weiß, dass eine große Unzufriedenheit in Deutschland herrscht. Es gibt Mehrheiten für eine andere Politik und für mehr soziale Gerechtigkeit, jedoch keine politischen Mehrheiten, die das umsetzen. Wagenknecht erreichte mit der 2018 von ihr initiierten Sammlungsbewegung Aufstehen auch viele Parteilose und junge Menschen.

Vor wenigen Wochen nun zog sie sich aus der Führung der überparteilichen Initiative Aufstehen zurück. Sie gab etwa zeitgleich auch das Amt der Fraktionsvorsitzenden an Amira Mohamed Ali ab. Wagenknecht, von 2004 bis 2009 Europaabgeordnete und seit 2009 für die Linken im Bundestag, wird nicht mehr als Spitzenkandidatin für den Fraktionsvorsitz kandidieren. Dauerstress und Gehetztheit in der Spitzenpolitik führten bei ihr 2019 zu Krankheit und schließlich zum Entschluss, kürzer zu treten. Zwei in der zweiten Jahreshälfte erschiene Werke widmen sich der intellektuellen Politikerin, die sich gerade aus der Spitzenpolitik zurückzieht.

* * *

Christian Schneider | Sahra Wagenknecht – Die Biographie

Schneiders Biographie der Ausnahmepolitikerin handelt davon, dass sich Sahra Wagenknecht heute traut, Schwäche zu zeigen. In der Biographie wird sie, die mit ihrer Analyse und Kritik vielen Menschen Mut macht, erstaunlich vielschichtig und ehrlich porträtiert. Von der Geburt und dem Aufwachsen in der DDR und der Erziehung durch eine alleinerziehende Mutter erzählt der Band ebenso, wie von dem Verlust des iranischen Vaters, der seit ihrem Kleinkindalter im Iran als verschollen gilt. Früh faszinieren die Schülerin, eine belesene Einzelgängerin, Grimms Märchen, später Goethe und noch später Hegel und Karl Marx. Autor Schneider, selbst promoviert und auch Sozialpsychologe und Führungskräftecoach, schreibt:

„Ihre Biografie ließe sich, ein rares Phänomen, fast lückenlos entlang ihren Bücherfreunden erzählen – gelesener wie selbst verfasster. Denn noch lange bevor Sahra Wagenknecht die Politik zu ihrem Beruf machte, war sie Buchautorin. Sie blieb es, trotz Zeitmangel, als Berufspolitikerin und wird – davon darf man ausgehen – auch in den kommenden Jahren mit Publikationen an die Öffentlichkeit treten.“ (S. 190)

Interessant ist, dass Schneider für die Biographie nicht nur mit Wagenknecht selbst, sondern auch offen und ausführlich mit weniger bekannten Personen aus Wagenknechts Umfeld wie Beate Peukert spricht, einer engen Freundin aus Kindheitstagen. Der Leser erfährt, dass Wagenknecht eine Phase als Punkerin hatte, in der sie auch mit gefälschten Ausweisen – noch minderjährig – Discos besuchte. Von 1997 bis 2013 war Wagenknecht mit Ralph Thomas Niemeyer verheiratet, ein wegen Betruges verurteilter Finanzberater. Schneider beschreibt Wagenknechts Besuche ihres Mannes im türkischen Gefängnis. Doch mehr Gewicht erhalten ihre politischen Anfänge in der PDS und als Wortführerin der Kommunistischen Plattform.

Sie veröffentlichte mit Kapital, Crash, Krise – kein Ausweg in Sicht? 1998 ein fiktives Streitgespräch. Bereits hier beschäftigt sich Wagenknecht als analytische Denkerin mit möglicher Kritik an ihren Positionen. Wagenknecht erkundete neue Horizonte stets voller Ehrgeiz. So erwirbt sie 2012 neben ihrer politischen Tätigkeit mit der englischsprachigen Arbeit The Limits of Choice. Saving Decisions and Basic Needs in Developed Countries einen mit „magna cum laude“ bewerteten Doktortitel. Mit mathematischen Formeln untersucht Wagenknecht in ihrer Dissertation den Zusammenhang von Sparentscheidungen und Grundbedürfnissen in Deutschland und den USA von den 1950ern bis heute.

Bald beschäftigt sie sich in ihren Publikationen vor allem mit konkretisierbaren Utopien. In Wahnsinn und Methode. Kapitalismus und Weltwirtschaft (2008) wagt sie einen Blick in die Zukunft und schildert „vier mögliche Entwicklungsszenarien“. Sie folgt der Frage, wie sich Utopien realpolitisch erden lassen könnten. Schneider setzte sich in der Biographie nun über zehn Jahre später mit diesen Szenarien auseinander. In ihrem heute bekanntesten Werk Reichtum ohne Gier (2016) verbindet Wagenknecht gesellschaftliche, historische, politische, soziologische und psychologische Sachverhalte mit der Ökonomie und schaffte es auf die Shortlist für den Deutschen Sachbuchpreis. Vier Gesellschaften sollen ihr zufolge die heute marktbestimmende Form der Kapitalgesellschaft ersetzen, die Personengesellschaft, die Mitarbeitergesellschaft, die öffentliche Gesellschaft und die Gemeinwohlgesellschaft.

Der Einfluss von Wagenknechts zweitem Ehemann Oskar Lafontaine, des ehemaligen Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden der SPD, wird erwähnt. Auch ihre größten Kritiker aus den eigenen Reihen werden thematisiert. So prägte Gregor Gysi zeitweise das Bild der tatenarmen Theoretikerin, die sich nicht an der Basisarbeit beteilige, dafür aber bei ihren Auftritten öffentlich feiern ließe (S. 169). Auch Wagenknechts umstrittene Position zur Migrationsfrage, die ein Beben in der Linkspartei initiierte, wird problematisiert. Wagenknecht ist gegen offene Grenzen und erklärt, wer sich, wie etwa bei den Übergriffen in der Silvesternach 2015/16 in Köln, nicht an die Gesetze halte, habe sein Gastrecht verwirkt. Einiges wird nur kurz angerissen, etwa dass Wagenknecht das derzeitige Prinzip der Vererbung abschaffen und Eigentum neu verteilen möchte.

Schneider lobt bei Wagenknecht ihre Fähigkeit zur Selbstkritik. Schon in jungen Jahren ist sie fähig, von sich selbst Abstand zu nehmen, die eigene Geschichte neu zu reflektieren und zu kritisieren: „Ein Bereuen ist durchaus spürbar, wirkliche Scham nicht.“ (S. 97) Konsequent denkt sie über den stets problematischen Zusammenhang von Theorie und Politik nach und reflektiert das eigene Tun selbstkritisch. Als größten politischen Fehler nennt Wagenknecht ihrem Biographen so das fehlende Konzept und die fehlende Vorbereitung für die linke Sammlungsbewegung Aufstehen.

Die Bilder, die Schneider von Wagenknecht macht, lassen neugierig werden:

„Es ist diese Mischung aus erwachsener, geschliffener intellektueller Rationalität und kindlich-naivem Staunen, die Sahra Wagenknecht ausmacht – und die meist übersehen wird. Oder falsch beurteilt. Für viele Menschen sind diese beiden Seiten nicht zusammenzubringen. Dabei ist die Verbindung des Konträrem bei ihr sogar hörbar.“ (S. 173)

34 Farbabbildungen der Politikerin im Mittelteil des Buches porträtieren ausdrucksstark ihr bisheriges Leben. Auch hier wird anschaulich, dass Wagenknecht zeitlebens ein klares Profil hat und zu dem steht, was sie verfolgt. Dabei tritt sie in ihren Kostümen bewusst konservativ formell auf, ohne sich zu inszenieren.

Bewertung:    





David Goeßmann | Von links bis heute: Sahra Wagenknecht

Goeßmanns Buch liest sich als eine aufschlussreiche und hintergründige Ergänzung zu Schneiders Biographie der Politikerin. Der Medienkritiker und Journalist Goeßmann setzt sich kritisch mit dem Werdegang von Wagenknechts Positionen, Lösungsvorschlägen und gesellschaftlichen Alternativmodellen eines „kreativen“ Sozialismus auseinander. Leider ist Goeßmanns Buch insgesamt sehr theorielastig, wenn er sich vor allem Widersprüchen und Ungereimtheiten in Wagenknechts ökonomischen Analysen und progressiven Ideen widmet:

„Ihr Lob der »offen gehaltenen Wettbewerbsmärkte«, die wieder Erfindergeist und Schwung in die Volkswirtschaft bringen würden, basiert zu großen Teilen auf einem Mythos – dem der innovativen Märkte. […] Wagenknechts spezifische Sichtweise auf die Reichtumsproduktion erzeugt zudem blinde Flecken. So versteht sie Reichtum aus der nationalen Perspektive einer Industrienation. Damit blendet sie aber ein wesentliches Element der Gleichung aus. Denn der Reichtum der reichen Staaten wurde und wird immer auch global erzeugt – nämlich durch Ausbeutung der Dritten Welt. Dieser Aspekt wird von Wagenknecht zwar nicht geleugnet, aber er hat keine Auswirkungen auf ihre politische Ökonomie und Politik.“ (S. 51f.)

Die Bezüge zu Wagenknechts Werk sind sehr weitreichend. Es lohnt sich oftmals, die in den Anmerkungen genannten Publikationen zu überprüfen. Goeßmann kritisiert etwa, dass Wagenknecht privaten Firmeneigentümern verwehren will, öffentliche Unterstützung zu nutzen. Denn sie moniert es als Ungerechtigkeit, wenn mit öffentlichen Technologien private Profite gemacht werden:

„Aber dieses Verbot ist in sich widersprüchlich. Es widerspricht nicht nur, wie schon angedeutet, der »Demokratisierung beim Zugang zu Kapital«, also staatlicher Hilfe. Zugleich würde es automatisch bedeuten – wenn sie das Verbot ernst meint –, dass es keine privatwirtschaftlichen Unternehmen in ihrem »kreativen Sozialismus« geben wird. Denn jedes Unternehmen ist zwangsläufig indirekt subventioniert.“ (S. 83)

Goeßmann kritisiert bei Wagenknechts Gegenentwurf einer sozialeren Leistungsgesellschaft, dass sie bekannte Modelle für eine demokratische Planung der Wirtschaft, wie etwa mit dem Ansatz einer Partizipation, ignoriere. Das moralische Dilemma von Freiheitsbeschneidungen, Ungerechtigkeiten und Machtballungen bestünde so auch in Wagenknechts kreativen Sozialismus weiter fort, erklärt Goeßmann:

„Wagenknechts einzelne Vorschläge sind für sich genommen sinnvoll und diskussionswürdig. Sie würden eine Dynamik stoppen, die im Moment nur eine Richtung kennt: in den Abgrund. Aber ihr Ansatz, dass mit der Auslöschung des Großkapitals und der Neuordnung der Großunternehmen und Kapitalgesellschaften, also vor allem der DAX-Konzerne, sowie der Entkommerzialisierung der Daseinsvorsorge allein eine andere, nicht auf Egoismus und Unfreiheit aufbauende Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen würde, ist eine Illusion. Sie unterschlägt die offensichtlichen Widersprüche und Dynamiken einer Markt- und Wettbewerbsordnung.“ (S. 97)

Bei vielen Kritikpunkten, die Goeßmann Wagenknecht gegenüber aufwirft, wünscht man sich, er würde mit ihr ins Gespräch gehen, um ihre Theorien zu überprüfen. Es herrschen soziale Abstiegsängste vor, denn die Mittelschicht erodiert. Bei jungen Menschen entstehen Ängste durch befristete Verträge und den Niedriglohnsektor, während Rentenkürzungen alten Menschen Angst machen. Es braucht ernsthafte Alternativen für eine sozialere Politik. Machtzentren müssen in einem ständigen Reformprozess weiter abgebaut werden, Machtreichweiten eingedämmt und demokratisiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass Wagenknecht ihre theoretischen Entwürfe für eine gerechtere Gesellschaft und Wirtschaft weiter verfolgt und dabei neben Schneider oder Goeßmann noch viele weitere interessierte Leser findet.

Bewertung:    


Ansgar Skoda - 22. Dezember 2019
ID 11901
Sahra Wagenknecht – Die Biographie von Christian Schneider
https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wirtschaft-gesellschaft/gesellschaft/sahra_wagenknecht-15326.html


Von links bis heute: Sahra Wagenknecht von David Goeßmann
https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/von-links-bis-heute-sahra-wagenknecht.html


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