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Das 'Nibelungenlied' - Eine mündliche oder schriftliche Dichtung?

Altgermanist analysiert die Memorierbarkeit der deutschen Heldendichtung

Bislang ging die Forschung davon aus, dass Deutschlands bekannteste und älteste Heldendichtung - das berühmte 'Nibelungenlied' - vor Jahrhunderten als schriftliche Dichtung verfasst und beim Vortrag abgelesen wurde. Dieser gängigen These widerspricht erstmals Harald Haferland, der an der Freien Universität Berlin Altgermanistik lehrt. "Das 'Nibelungenlied' war ursprünglich keine Literatur, sondern vielmehr ein Gedächtnistext, der mündlich vorgetragen und nur zur Speicherung niedergeschrieben wurde", so Haferland in seinem jüngst erschienen Buch "Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität - Heldendichtung im deutschen Mittelalter". Der Altgermanist erklärt am Beispiel des 'Nibelungenliedes', anhand welcher Techniken es mittelalterlichen Sängern gelang, die ellenlangen Texte auswendig zu lernen. "Für die volkssprachliche Heldendichtung ist die Möglichkeit eines gedächtnismäßigen Vortrags bislang bestritten worden, obwohl es Hinweise für eine mündliche Tradierung gibt und einige Heldendichtungen deshalb in mehreren Fassungen vorliegen", meint Harald Haferland.

Das 'Nibelungenlied' besteht aus 39 Abschnitten, so genannte "Aventiuren", und ist in rund 2400 Strophen abgefasst, die jeweils aus vier paarweise reimenden Langzeilen bestehen. Das Epos ist wahrscheinlich zwischen 1198 und 1204 in Passau entstanden. Zu dieser Zeit wurden Heldendichtungen zwar schon auf Pergament festgehalten, aber im Vortrag nicht abgelesen, sondern auswendig aus dem Gedächtnis abgerufen. "Aufgrund der erheblichen Länge des Textes hat man sich das nie vorstellen können", sagt der Altgermanist.

An eine genaue Reproduktion des Wortlauts dürfe man dabei aber nicht denken. Vielmehr hätten die Sänger Dinge beliebig hinzugefügt oder Teile weggelassen. "Schließlich konnte sie niemand überprüfen, denn schriftliche Aufzeichnungen waren damals nicht so verbreitet wie heute und außerdem auch nicht autorisiert", meint Haferland. Sänger mussten nur im Vortrag vorankommen und ihren Zuhörern die Geschichte erzählen. "Allerdings war ihr Gedächtnis notgedrungen lückenhaft, und so mussten sie aus dem Stand solche Lücken füllen können", erläutert der Altgermanist. "Dabei improvisierten sie keinen immer wieder neuen Text, sondern sie blieben im sprachlichen Gerüst des vorhandenen Textes und flickten den Wortlaut nur dort, wo er ihnen entfallen war." Auswendiglernen war also immer mit der Kunst verbunden, sich über Gedächtnislücken hinwegzuhelfen. Diese Kunst war in der Vortragspraxis erlernbar, und die strophische Form der Dichtungen kam den Sängern dabei besonders entgegen.

Warum aber hat man die Indizien für eine entsprechende Rekonstruktion der Vortragspraxis bislang nie beachtet? "Weil es gegenüber der Dominanz der schriftlichen Überlieferungsgestalt der Texte und ihrer Fassungen einiger Vorstellungskraft bedarf, um überhaupt einen Anfangsverdacht zu schöpfen, und weil es dann noch einmal erheblicher Rekonstruktionsarbeit bedarf, um ihn zu erhärten", weiß Harald Haferland. "So sind an sich recht auffällige Gedächtnisfehler, wie sie auch in den Fassungen des 'Nibelungenliedes' zu finden sind, nie aufgefallen. Textpartien zu vertauschen, wenn sie locker im Erzählverlauf sitzen oder wenn ein Reimwort falsch assoziiert wird, wird man beim memorierenden Abruf von Texten geradezu erwarten müssen. Und so kommt es öfter vor, dass ein Halbvers, ein ganzer Vers oder sogar ein Verspaar mit dem folgenden einfach seinen Platz wechselt."

Ein Beispiel: In der Fassung *C des 'Nibelungenliedes' wird gegenüber der Vorgängerfassung *B ein Vers bzw. Verspaar vertauscht. Rüdigers Leute empfinden beim Abschied von den zum Hof Etzels weiterziehenden Burgunden Schmerz (leit), da sie zu Recht fürchten, die Freunde nie wieder zu sehen. Sie fühlen schon jetzt Sehnsucht (sêr) nach ihnen. So nach der Fassung *B. Anders nach der Fassung *C, wo Verse versehentlich vertauscht worden sind. Es scheint offensichtlich, dass der für die Fassung *C verantwortliche Tradent, der Vortragende, hier ein später kommendes Reimwort unwillkürlich vorgezogen hat (sêr für leit), dessen Bedeutung sich dabei leicht ändert. Dadurch rückt der folgende Vers, da er an das Reimwort angeschlossen ist, mit nach oben. Die ursprünglich hier stehenden Verse werden stattdessen nachgestellt. Wie fast in jeder Strophe kommt es dabei zusätzlich zu kleineren oder größeren Umformulierungen des Wortlauts.

Fassung B: 1711,3-1712,2:

ich wæn' ir herz in sagete diu krefteclîchen leit.
dâ weinte manic vrouwe und manic wætlîchiu meit.
Nâch ir lieben friunden genuoge heten sêr,
die si ze Bechelâren gesahen nimmer mêr.

(Ich glaube, ihr Herz kündete ihnen das große Leid.
Da weinten viele Damen und viele schöne Mädchen.
Nach ihren lieben Freunden hatten viele Sehnsucht,
die sie in Bechelaren niemals wiedersehen sollten.)

Fassung C: 1750,3-1751,2:

in wæn, ir herzen sageten diu krefteclîchen sêr,
daz si der lieben friunde dar nâch gesæhen nimmer mêr.
Nâch ir lieben friunden heten genuoge leit.
dô weinten âne mâze vil frouwen und manic meit.

(Ich glaube, ihre Herzen kündeten den großen Schmerz,
dass sie die lieben Freunde danach nie wiedersehen sollten.
Gegenüber ihren lieben Freunden hatten viel Leid.
Da weinten unmäßig viele Damen und viele Mädchen.)

Häufig wird auch nur ein Wort oder Wortblock ausgetauscht oder anders bezogen, so dass sich unwillkürlich der Erzählinhalt leicht ändert. Auch hierfür ein Beispiel: Kriemhild stachelt Etzels Krieger zum Kampf gegen die Burgunden an. Sie sagt:

Fassung B: 2109,1:
Lât einen ûz dem hûse nit komen über al
(Lasst nicht einen einzigen aus dem Haus entkommen)

Fassung C: 2166,1:
Spinget zuo dem hûse, ir recken überal
(Eilt von allen Seiten zu dem Haus, ihr Krieger)

Es ist ein Unterschied, ob man niemanden aus dem Haus entkommen lassen oder von allen Seiten zum Haus eilen soll. In Erinnerung sind dem Sänger bestimmte Wörter (dem hûse, überal), aber durch den Austausch anderer Wörter werden sie anders bezogen und ergeben zusammen einen neuen Sinn.

"Gerade die Schwierigkeit, wenn nicht sogar Unmöglichkeit, ein überzeugendes Motiv für die zahllosen Änderungen in der *C-Fassung des 'Nibelungenliedes' zu finden - von den zusätzlich eingebrachten Strophen ganz abgesehen -, ist ein Beweis für das unwillkürliche Eintreten solcher Änderungen", meint Harald Haferland. "Ein Sänger spricht beziehungsweise singt gegebenenfalls einfach drauflos, und dabei verlässt ihn manchmal die genaue Erinnerung." So komme es immer wieder zu Änderungen, die kleinere oder größere Kettenreaktionen zur Folge haben könnten: "Mal wird nur ein Füllwort weggelassen oder ausgetauscht, mal aber zwingt ein veränderter syntaktischer Anschluss, den Satz anders durchzuformulieren, und öfter werden Verse gleich ganz neu formuliert." Das passiere selbst mit vollständigen Strophen, wobei einzelne Wortblöcke erhalten blieben. In der Regel führe dies aber nicht dazu, dass für den Handlungsverlauf notwendige Information verloren gingen, wenn es auch im Ausnahmefall zu kleinen Unstimmigkeiten kommen könne.

Wie ist aber die hochmittelalterliche Endfassung *C des 'Nibelungenliedes' um 1200 (wohl nur wenige Jahre nach der ihr vorhergehenden Fassung *B entstanden) aufs Pergament gelangt? "Sicherlich war es nicht so, dass ein Schreiber einen Vortrag mitstenographiert hätte, sondern der Sänger wird die neue Fassung diktiert haben. In jedem Fall hat er die von ihm bearbeitete *B-Fassung nicht kontinuierlich im Manuskript eingesehen, sondern den neuen Text im Wesentlichen frei aus dem Gedächtnis diktiert. Nur so lassen sich die zahllosen unwillkürlichen Änderungen erklären", vermutet Haferland.

Betrachtet man die literarische Form des 'Nibelungenliedes', so wird laut Harald Haferland deutlich, dass die Strophe keine literarische Schmuck-, sondern eine erinnerungstechnisch effektive Füllform ist. Der Erzählinhalt wird stückweise in sie hineingegossen und am Strophenende durch eine besonders dafür vorgesehene metrische Markierung (eine zusätzliche Hebung des letzten Halbverses) ab- und zugeschnürt. Die Hervorhebung des Strophenendes dient als Gedächtnisstütze. Die aus vier Langversen mit je zwei Halbversen gebildete Strophe erlaubt dem Sänger, den Wortlaut stückweise - durch den Rhythmus und die Melodie hörbar kodiert - abzurufen. Der Wortlaut wird dabei von unten (bottom-up) kodiert. Das heißt, im Kodierungsgerüst von Rhythmus, Metrik, Vers, Strophe und Melodie bleibt die Wortfolge weitgehend erhalten. Der Erzählinhalt wird dagegen gewissermaßen von oben (top-down) kodiert, indem ein Sänger die Handlung und ihre konkrete Ereignisfolge anschaulich vor Augen hat. Nur so gelingt es ihm, den in seiner Erinnerung ausgefallenen Wortlaut neu zu bilden und lokal zu ersetzen, ohne gleich den ganzen folgenden Text umzustürzen. "Man kann zeigen, dass schon die narrative Anlage von Heldendichtungen auf eine effektive Visualisierung aus ist, die kodierend wirkt", meint Harald Haferland.

Literatur:
Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität - Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, ISBN 3-525-20824-3

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Priv.-Doz. Dr. Harald Haferland, Tel.: 030 / 751 22 47, E-Mail: hhafer@zedat.fu-berlin.de

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Kommunikations- und Informationsstelle der
Freien Universität Berlin
Kaiserswerther Str. 16-18
14195 Berlin

Tel.: 030 / 838-73182
Fax: 030 / 838-73187


Ilka Seer / 25.11.2004
ID 1423

Weitere Infos siehe auch:






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