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Rezension

Steve Stern - "Der gefrorene Rabbi"

Roman
Blessing Verlag, 2011
ISBN: 978-3-89667-436-4


Über die Absonderlichkeiten des christlichen Geschäfts mit der Spiritualität wurde ja schon so Einiges geschrieben. Im Grunde war es längst an der Zeit, dass auch das jüdische Pendant, das Business mit der Kabbala, sein Fett abbekommt.

Steve Stern, mehrfach ausgezeichneter Autor aus Tennessee, hat sich dieser Aufgabe angenommen, allerdings nicht ohne seinen leicht boshaft skizzierten Charakteren im heutigen Amerika noch eine ganze Sippschaft samt ereignisreicher Historie hinzuzudichten. Der von US-Kritikern als Erbe des großen Isaac Bashevis Singer gehandelte Schriftsteller, bekannt für seine von jiddischer Folklore inspirierten Prosatexte, lotet in seinem jüngst erschienen Roman lässig neue Möglichkeiten aus und verflicht eine in den 1890ern startende, turbulente Saga mit einer um die Jahrtausendwende angesiedelten Coming-of-Age-Story.

Wir schreiben also zunächst das Jahr 1999. Bernie Karp, ein phlegmatischer, eher unbeliebter Teenager aus Memphis, laviert sich so durch. In seinem Refugium, dem Hobbykeller, kann er sich vor dem TV-Gerät zumindest seine nicht minder tranige Familie erfolgreich vom Leib halten. Bis er eines Tages in der Tiefkühltruhe im besagten Keller einen nicht ganz alltäglichen Fund macht: schlummert doch ein waschechter, betagter Rabbiner im Eis! Nur wenig später gelingt es diesem, sich während eines Stromausfalls aus seinem frostigen Grab zu befreien.

In der Folge schildert Autor Stern, hier erstaunlicherweise zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, mit sprühendem Wortwitz und einem Händchen für skurrile Charaktere, welche Konsequenzen diese Episode für den Jungen hat. Zunächst ahnt er natürlich nicht, dass ein jüdisches Erbe ziemlich schwer wiegen kann. Denn der neu zum Leben erwachte Chassid aus dem 19. Jahrhundert ist in der Tat ein leibhaftiges Erbstück der Familie Karp, ehemals Karpinski.  

Der lange, beschwerliche Weg des zunächst als Heiligenwunder verehrten, später eher lästigen alten Zaddik vom zugefrorenen See bis zur Auferstehung zwischen Tiefkühlpommes und -steaks gut 200 Jahre später wird nun parallel zu den Erlebnissen von Karp junior erzählt. Letzterer muss miterleben, wie der greise, doch quicklebendige Rabbi seine spärlichen, neu erworbenen Englischbrocken zusammenkratzt und im städtischen Einkaufszentrum ein „Haus der Erleuchtung“ aus der Taufe hebt. Dort vermittelt er – gegen den nötigen Aufpreis, versteht sich – kabbalistisches Wissen auf der Yogamatte und bringt Seelenheil in Döschen unters Volk, nach „alter Zen-Judaismus-Tradition“.

Bernie, um die Aufmerksamkeit des von blutjungen Assistentinnen umschwirrten Rabbis betrogen, macht hingegen eine Metamorphose durch, nicht nur optisch. Es ist vielmehr seine spirituelle Aura, die ihm die Bewunderung und Zuneigung seiner Schulkameradin Lou Ella – und damit auch einige erste amouröse Sequenzen – einbringt. Der Glanz des Außerweltlichen macht offenbar attraktiv.

So einfallsreich und abgründig gesellschaftskritisch diese Geschichte um das ungleiche Teenagergespann und die Eskapaden ihres so profitgierigen wie nonchalanten Schützlings auch sein mag – eine zu magerere Ausstaffierung des Plots und zahllose Lücken darin mindern leider das Lesevergnügen und drosseln die Spannung. Wie zum Beispiel Rabbi Elieser aus dem Eis überhaupt auf die Idee verfällt, ein Meditationszentrum aus dem Boden zu stampfen, bleibt ohne Vorgeschichte und daher ohne schlüssige Erklärung.

Ganz anders verhält es sich mit dem historischen, fast legendenhaften zweiten Erzählstrang, der den anderen nicht nur in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer Hinsicht überragt. Es geht um nichts Geringeres als die Eskapaden von Bernies Vorfahren, deren Geschichte er nach mühevollen Jiddisch-Lektionen im alten Tagebuch seines Großvaters liest. Hat man sich an die bisweilen etwas hippieske, dick auftragende Sprache des Autors gewöhnt, wird man bald nicht umhin können, in ihm hier das Talent eines der großen amerikanischen Erzähler zu entdecken, die die prosaischen, aber liebevollen Erinnerungen an eine alte europäische Heimat mit dem Pioniergeist der uramerikanischen Siedlerodysseen zu verknüpfen wissen. Stern entwirft mit sichtlicher Erzählfreude eine komplette Familienhistorie, die er fünf Generationen vor Bernie im polnischen Stetl ansetzt, über entscheidende Stationen in New York und im Heiligen Land weiterspinnt und schließlich in Julius Karps umtriebigem Geschäftsleben ein vorläufiges Ende finden lässt.

Immer wieder möchte man den Kopf schütteln über die bizarren Schicksale und Beziehungskonstellationen der Figuren, die allesamt so unterschiedlich sind und dennoch den sehr  eigenen Kopf und ein unerschütterliches Durchsetzungsvermögen gemein haben. Und wie bei einer guten Tragikomödie möchte man lachen und zugleich weinen, angesichts der slapstickartigen Szenen einerseits und der nur allzu realistischen geschichtlichen Kulisse andererseits. Besonders die Story um die Immigranten-Urgroßeltern Jochebed und Schmerl mit ihren Kontakten zu Schmugglern, zwielichtigen Ghetto-Nachbarn und zu den Großen der Halbwelt liest sich dank temporeicher Erzählweise und schalkhafter, skurriler Einfälle sehr flott.

So steht also der wenig ausgereifte Plot über den neo-esoterischen Wahn des wiederauferstandenen Heiligen in den frühen Nullerjahren in scharfem Kontrast zu der teils tragischen, teils wunderlich-verspielten Familiensaga, die sich wie eine schillernde chassidische Legende ausnimmt.

Was am fast 500 Seiten starken Roman (Der gefrorne Rabbi) stört, ist die Kehrseite dessen, was eben auch begeistert: die typisch jüdische Chuzpe nämlich. Wo doch einerseits die Satire in eine nervende Respektlosigkeit ausartet, andererseits aber ein erfrischend frecher Ton dort die Oberhand gewinnt, wo ansonsten Langatmigkeit zu befürchten gewesen wäre. Dieser Ton ist es, der letztlich den trotz allem sehr lesenswerten modernen Familien- und Schelmenroman ausmacht.

Jaleh Ojan - red. 4. Juni2011
ID 5228
Steve Stern - "Der gefrorene Rabbi"
Roman
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
496 Seiten
Blessing Verlag, 2011
ISBN: 978-3-89667-436-4
€ 21,95 [D] | € 22,60 [A] | CHF 34,50*



Siehe auch:
http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=363681


Post an die Rezensentin jaleh.ojan@kultura-extra.de



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