Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 2

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Rezension

Peter Wawerzinek - "Rabenliebe"

Verlag Galiani Berlin 2010
ISBN 978-3-86971-020-4


Peter Wawerzinek hat diesen Sommer einen geradezu mythischen Text aus der Schublade gezaubert, der beim Bachmannwettbewerb erwartungsgemäß auftrumpfte! In Wahrheit jedoch hat der Autor sehr lange auf diesen Erfolg warten müssen. Eigentlich sein ganzes Leben. Denn geschenkt wurde Peter Wawerzinek bislang nichts. Er hat gekämpft: mit sich, seinen Lebensumständen, seiner Entfremdung. Und nun hat er aus den Bruchstücken seiner Erinnerungen einen Roman geschaffen, der eine Art Wegbeschreibung zu seiner Mutter liefert, die den Erzähler auf der Flucht nach Westdeutschland als Kleinkind zurückgelassen hatte. Dadurch wächst der Autor in Kinderheimen an der Ostseeküste auf, wird dort im Alter von zehn Jahren von einem Lehrerehepaar adoptiert, wo er es nur aushält, weil es sonst keine Alternative für ihn gibt. So die Kurzfassung eines unvorstellbaren Lebens.

Wie das Nachkriegsland ist Wawerzineks Roman ("Rabenliebe") zweigeteilt. Zeitungsmeldungen über vernachlässigte Kinder liegen im Text verstreut wie Minen im ehemaligen Todesstreifen. Die Mutterfindung, das erste Romankapitel, spielt im Osten Deutschlands und ist eine Spurensuche im Schnee. "Ich leide am Verlust weiblicher Wärme", stellt der Ich-Erzähler fest, nachdem er die Jahre seiner Kindheit mit Schnee, Frost, Winter und Eiseskälte assoziiert. Ein Winterkind, das die Sprache der Vögel beherrscht und eine poetische Sicht auf die Dinge in sich trägt. Nächtliche Bäume haben den Jungen längst adoptiert, bevor es ihnen eine Küchenfrau, eine Handwerkerfamilie, ein Lehrerehepaar nachtun wollen. Das Heimkind bleibt aber ein Heimkind, kann die "heimlichen Angewohnheiten" bis heute nicht ablegen, denn: "Das Heim ist meine Achselhöhle. Ich komme ohne Vater und Mutter aus. Das Heim ist die annehmbare Alternative zur Familie." Als die Adoption im dritten Anlauf durch ein dröges Pädagogenpaar vollzogen ist, bewahrheitet sich die Vorahnung des Jungen. Die neuen Eltern erwarten ein funktionierendes des Kindes, das sich anzupassen hat, um nicht wieder zurück ins Heim zu müssen. Nur die Großmutter ahnt, wie es in dem Jungen aussieht und gibt ihm Liebe und Trost.

Das zweite Romankapitel spielt im Westen Deutschlands und heißt schlicht: Da bist Du ja. Das ist der ungeheuerliche Satz, mit dem die Mutter nach über fünfzig Jahren den Besuch des Sohnes kommentiert. Die Heimkehr des Erzählers gerät zur Farce. Mutter und Sohn sitzen sich in der Küche gegenüber und haben sich nichts zu sagen: "Ich betrachte die Mutter und will nicht fassen, dass ich aus ihrem Schoss gekrochen..." Während der Sohn die Hoffnung auf eine Erklärung der Mutter längst aufgegeben hat, tischt sie ihm wie eine Lüge einen Fertigkuchen aus dem Billigdiscounter auf. Alles was der Erzähler jemals auf die abwesende Mutter projiziert hat, löst sich in ihm während des Aufenthaltes im Nichts auf. Die Schlüsselszene des Romans erreicht ihren absurden Höhepunkt, als auch noch seine Halbgeschwister in der Mutter-Wohnung erscheinen, um in ihm den unbekannten Halbbruder aus dem Osten kennen zu lernen. Gebannt lauschen sie seiner Geschichte, ohne jedoch deren Tiefe zu ergründen. Am Ende versteht der Erzähler nicht mehr, wie "diese Frau" sein ganzes Leben bestimmen konnte. Ernüchtert verlässt er den Ort und beginnt sich endlich die Verzweiflung von der Seele zu schreiben.

Dabei zieht einen der Lyriker Wawerzinek von Anfang an sprachlich in seinen Bann. Und je weiter die Erinnerungen des Erzählers zurück liegen, desto anmutiger werden die Bilder: Traumgleiche Sequenzen wie in alten Schwarzweißfilmen, begleitet von längst verklungenen Kinderliedern und gemurmelten Beschwörungen, die immer wieder leitmotivisch auftauchen und einem die Fülle vor Augen führt, aus denen der Erzähler anscheinend mühelos schöpfen kann.

Dass die Story im Vorfeld in allen möglichen und unmöglichen Talkshows zerredet und durch die Boulevardpresse unters Volk gebracht wurde, hat dem Roman nicht geschadet. Dennoch frage ich mich, ob wir noch in der Lage sind, Literatur zu rezipieren, ohne zuvor einen plumpen Einblick in das Privatleben eines Schriftstellers erhalten zu haben?! Bleibt zu hoffen, dass Peter Wawerzinek nun nicht vollkommen zur Betriebsnudel des Literaturbetriebs avanciert, sondern wieder an seinen Laptop zurückkehrt.


Arthur S. Janetz - red. 2. November 2010
ID 00000004910
Peter Wawerzinek - "Rabenliebe"
Roman
Verlag Galiani Berlin
Gebunden, 432 Seiten
Euro 22,95 (D) / sFr 34,90 / Euro 23,60 (A)


Siehe auch:
http://www.galiani.de


E-Mail an Arthur S. Janetz



  Anzeige:


LITERATUR Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUTORENLESUNGEN

BUCHKRITIKEN

DEBATTEN

ETYMOLOGISCHES
von Professor Gutknecht

INTERVIEWS

KURZGESCHICHTEN-
WETTBEWERB
[Archiv]

LESEN IM URLAUB

PORTRÄTS
Autoren, Bibliotheken, Verlage

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal





Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)