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Rezension

Julya Rabinowich - „Spaltkopf“

Roman
Deuticke Verlag 2011
ISBN 978-3-552-06177-4


„Ich bin die Tochter des Häuptlings. Mein Vater Lev ist der älteste Mann unserer Familie. Ich kenne keinen, der älter und wichtiger wäre. Ich warte ungeduldig auf das mir versprochene Königreich und auf meinen Prinzen, mit dem ich nicht zu teilen gedenke.“

Ich, das ist Mischka. Und Mischka ist das Mädchen, das uns seine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte vom Aufbruch in eine neue Heimat und dem Zurücklassen des vertrauten Leningrad, dem heutigen St. Petersburg.

Gerade mal sieben Jahre ist Mischka, als die Eltern mit ihr und Großmutter Ada in ein Flugzeug steigen und Leningrad, vorgeblich für einen Urlaub in Litauen, verlassen. „Wir nähern uns dem gelobten Land, die Nase des Flugzeugs senkt sich der Milch und dem Honig entgegen. Ich kotze verschämt Schnitzelreste in meine Papiertüte, während mir Hören und sehen vergeht.“ Die Maschine landet in Wien. Mischka erfährt erst jetzt von ihren Eltern, dass sie Leningrad, die zurückgelassene russisch-jüdische Groß-Familie und die Freunde nie wieder sehen werden kann, denn die Gefahr wäre zu groß gewesen, hätte Mischka durch eine Unachtsamkeit die Flucht verraten.

Hier beginnt nun der mühsame Weg der Familie in der neuen Welt heimisch zu werden. Begleitet wird Mischka hierbei immer wieder von den russischen Märchen und der russischen Literatur, die ihr erzählt oder vorgelesen wurden, den Erinnerungen an vergangene Zeiten mit ihren Freunden und den neuen Eindrücken, die sie in Wien sammelt. „Die Tapeten über dem Bett sind mit Wandmalereien verziert, Elfen, Feen, die ganze Grimm´sche Versammlung. Daneben auf dem Holzregal Dostojewski und Tolkien.“

Der Leser beginnt bald mit Mischka in die Tiefen ihrer Seele einzutauchen. Man erfährt viel über ihr Gefühlsleben. Aber für Mischka geht es nicht nur darum, die neue Sprache, die neue Lebensart und die Menschen zu begreifen, sondern vor allem sich selbst. Im Laufe des Romans wird aus dem siebenjährigen Mädchen eine junge Frau und Mutter, die immer noch nicht bei sich selbst angekommen zu scheint. „Ich werfe alles durcheinander und in einen bodenlosen Topf: Sexualität, Trieb, Angst, alles köchelt vor sich hin, während ich als Baba Yaga in meinem Kessel rühre. Ich bin mir selbst eine Hütte auf Hühnerbeinen, die sich dreht und wendet, wenn man sie ruft.“ Dass sie manchmal selbst nicht genau weiß, was sie will und wohin ihr Weg führen soll, wird umso verständlicher, da sie von vielen starken Frauen in ihrer Familie umgeben ist. Die, wie es scheint, auch unabhängig von ihren Männern leben können. Sie tragen alle ein Geheimnis in sich, und es scheint so als hätte Mischka dies geerbt. „Ich irre zwischen meiner Kinderwelt, der Welt der Hochkultur und dem mich umgebenden Proletariat umher, ich habe mich wie das Rotkäppchen vom Weg abringen lassen. Munter klappert der Inhalt meines Körbchens.“

Als Mischka ihren zukünftigen Mann Franz kennenlernt, ist dieser mehr von ihrem Vater, der Maler ist, angetan als von Mischka. Doch Mischka weiß sich zu helfen und wirbt um ihn, indem sie Franz ihrem Vater vorstellt. Mischka ist sich ihrer Sache sicher. „Er ist mein Opfer und er wird es bleiben.“ Doch nichts ist für die Ewigkeit. Das muss Mischka auch erkennen, als sich ihre Eltern trennen und sie damit ihren Vater nie wieder sehen wird.

Vielleicht um sich selbst klarer zu sehen, vielleicht aber auch nur um zu prüfen, ob die Erinnerung an Leningrad noch ihre Gültigkeit haben, bricht Mischka eines Tages auf und besucht ihre vor langer Zeit verlassene Heimat Leningrad. Doch ob sie damit ihr Ziel erreicht, soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei mit einem Zitat aus dem Roman gesagt: „Er ist schon bald da. Wenn ihr nicht unter der Decke verschwindet, dann schwebt er über euch und frist eure Gedanken. Er saugt euch die Seelen aus!“ Gemeint ist der Spaltkopf.

Julya Rabinowich gelingt es märchenhaft, den Leser in die Welt der kleinen Mischka zu holen und ihn mit ihr erwachsen werden zu lassen. Die Autorin hat eine sehr bildhafte Sprache. Zudem ist die Mischung der eingeflochtenen Märchen und Mythen aus Russland, aber auch aus Deutschland, gut gelungen. Hier wird deutlich, dass Mischka von verschiedenen Kulturkreisen geprägt worden ist und zwischen diesen hin- und hergerissen wird. Zudem arbeitet die Autorin in diesem Roman gerne mit dem Mittel der Vorschau und vielen Rückblenden. Dadurch verschiebt sich auch die Perspektive, die Mischka gerade einnimmt, wenn sie von Ereignissen erzählt oder diese erlebt. Die Handlung wird dadurch zusätzlich verdichtet. Lesenswert!

Andrea Tagschütz – red. 15. September 2011
ID 5384
Julya Rabinowich - „Spaltkopf“
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
Deuticke Verlag
Erscheinungsdatum: 25.07.2011
Sprache: Deutsch
ISBN 978-3-552-06177-4
17.90 € (D) / 25.90 sFR (CH) / 18.40 € (A)



Siehe auch:
http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch.html?isbn=978-3-552-06177-4


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