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Rezension

Der andere nebenan

Eine Anthologie aus dem Südosten Europas, hrsg. von Richard Swartz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007. Geb., 342 Seiten, 28,- Euro
ISBN 978-3-10-072534-9



Die letzten Kentauren Europas

Am Beginn müßte eigentlich eine Erklärung stehen. Der andere nebenan heißt ein Buch, das vor kurzem beim S. Fischer Verlag erschienen ist. Der Band versammelt Essays, Erinnerungen und Prosastücke von 21 Autoren, die in ihrer Mehrheit aus dem früheren Jugoslawien sowie aus den angrenzenden Ländern Albanien und Bulgarien stammen. Herausgeber ist mit Richard Swartz, einem schwedischen Journalisten und Autor (u.a. Das Haus in Istrien, 2001), zugleich ein langjähriger und exzellenter Kenner der Region. Aber worum geht es darin?
„Der andere nebenan“ ist ein nichtssagender Titel. Diskussionsforen und Tagungen, die die Multikultur im Schilde führen und über Alterität debattieren, könnten den politisch korrekten Zugang zum Thema kaum auf eine treffendere Nullformel bringen. Ohne den – ebenfalls diplomatischen – Untertitel „Eine Anthologie aus dem Südosten Europas“ wäre gänzlich intransparent, worum es überhaupt geht: um Reflexionen über die stets konfliktträchtige Koexistenz von sprachlich-kulturellen Gruppen in dem Raum, den der Klappentext als „Balkan“ ausweist. Somit scheint alles klar zu sein. Die Schublade ist geöffnet, um neuerliche Einlassungen zu einem landläufig mit Fallstricken übersäten Topos darin zu versenken. Noch eine gutgemeinte Balkan-Anthologie?

Man sollte sich zunächst einmal, die Belobigungen, die der Band bereits erfahren hat, beiseite lassend, fragen, worum es in einem Buch gehen kann, das sich dem „anderen nebenan“ widmen will. Um Definitionen, um Grenzziehungen? Wenn schon „Südosteuropa“, warum sind dann aber keine rumänischen, ungarischen oder griechischen Autoren aufgenommen worden? Wie verhält es sich mit der Bezeichnung „Balkan“, wo doch Slowenien, das mit immerhin mit zwei Autoren vertreten ist, seine Grenzbarrieren zu den kroatischen Vettern immer weiter erhöht und sich, zumal als derzeitiger EU-Ratsvorsitzender, von seiner Balkanvergangenheit abgrenzt? Schon ein vorsichtiger Blick auf die ganze Thematik zeigt, daß wir es vor allem mit verschwommenen, zugleich aber äußerst realen Grenzziehungen zu tun haben. Auch die Begriffe sind da nur Annäherungen, in ihnen sind aber die Entfremdungen schon angelegt.

Eingrenzungen

Die erste Eingrenzung betrifft den Umfang des gesamten Projekts. Irgendwo mußte der Schlußstrich gezogen werden, so Herausgeber Swartz in seinem knappen Nachwort. Laut Swartz war die literarische „Qualität“ das einzige Kriterium für die Auswahl der Texte. Ihre Abfolge im Buch ist nicht thematisch strukturiert, sondern erfolgt schlicht nach Alphabet. Einige der Autoren, wie etwa der in Österreich lebende und auf Deutsch schreibende Bulgare Dimitré Dinev in seiner humorvollen Parabel „Der Regen“, verfassen Prosatexte. Die Kroatin Slavenka Drakulic, die die Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag verfolgt hat, generiert dagegen in ihren „Drei Monologen über die anderen“ aus Zeugenaussagen eine dokumentarisch gefaßte, wenngleich fiktionale „Aussage“ dreier irgendwie Beteiligter des Jugoslawienkrieges: Ein Mädchen erkennt auf einem Greuelvideo ihren Vater als mordenden Tschetnik, ein jugendlicher kroatischer Veteran versucht die gemeinsame Bluttat an einem Verräter in den eigenen Reihen im Alkohol zu ersäufen, und ein muslimischer Bosnier nimmt während der Belagerung von Sarajevo das Neugeborene einer Serbin bei sich auf.
Die große Mehrheit der Autoren aber schreibt Essays, in denen das Biographische die Hauptrolle spielt. Sie lösen die verstörende Gleichzeitigkeit der Erfahrung des anderen und der Andersheit in die Geschichte auf, weniger um eine Vergangenheit zu beschönigen, die noch immer umkämpft ist, als um die Gegenwart erzählbar zu machen. Da geht es um Erlebnisse aus der eigenen oder der Familiengeschichte, um Begegnungen, meistens in der Fremde, die die Autoren bewegt und weitergebracht haben; sie zeichnen Lebenswege nach, die im jugoslawischen Kontext natürlich waren, die jedoch aus der Sicht der eingegrenzten und eingeschränkten Nachfolgestaaten heute fast abenteuerlich wirken. Dabei umkreisen die meisten Autoren auch die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, den Zweiten Weltkrieg, den Kommunismus eines Tito, Stalin oder Hoxha, vor allem aber den jugoslawischen Bürgerkrieg und den Bombenkrieg der NATO des Jahres 1999.

Eine große Erzählung des Buches ist sicherlich der Krieg als Extremform für die Erfahrung von Andersheit. Doch es scheint, als wäre die Zeit der Eindeutigkeit in der Darstellung der Bürgerkriegsgreuel der 90er Jahre vorbei. Slavenka Drakulic wählt, wie gesagt, die strenge Form des Zeugenberichts. David Albahari nimmt in seiner einleitenden Erzählung „Warum?“ die Erzählposition eines offensichtlichen Dorftrottels ein, der von seiner weltfremden Warte aus die Skurrilität des sich anbahnenden Bürgerkriegs in dem namenlosen bosnischen Ort, in dem er lebt, entlarvt. Als der Krieg ausbricht, kann er sich als Serbe inmitten der wütenden Soldateska den Weg bahnen zur Tochter des bereits ermordeten muslimischen Offiziers Kulenovic, in die er sich verliebt hat. Er erschießt ihre – serbischen – Vergewaltiger, beginnt aber schließlich selber, sie scheinbar aus einer Laune heraus zu quälen. Auf ihre Frage „Warum tust du mir das an?“ gibt es keine Antwort: „Ich wusste es wirklich nicht.“

Krieg und Vertreibung

Vladimir Arsenijevic schlägt in seiner Erzählung „Wurzellosigkeit“ einen anderen Weg ein. Er führt den jungen albanischen Kosovo-Flüchtling Dren auf dem Höhepunkt der serbischen Aggression des Jahres 1999 über ein dänisches Auffanglager nach Berlin, wo er bei einem Krawall in Berlin Kreuzberg auf geradezu absurde Weise zu Tode kommt. Arsenijevic läßt Dren kurz vor seinem Tod ein Telefonat mit dem Mörder seines Vaters in Prizren führen, der ihm mitteilt: „Deinen Alten haben wir abgeschlachtet“. Der „Effekt“ der Erzählung ist jedoch, daß die beiden kosovarischen Schriftsteller Fatmir und Marija, er Albaner, sie Serbin, die, zu Gast in Berlin, Zeugen dieser von der Polizei verschuldeten Brutalität werden, wieder zu einer gemeinsamen Form des Umgangs finden.
Die Drastik und Überzeichnung dieser Ereignisschilderung steht auch stilistisch im Kontrast zu den übrigen Beiträgen des Buches. Der kosovo-albanische Schriftsteller Beqë Cufaj, dessen Familie von den Vertreibungen des Jahres 1999 unmittelbar betroffen war, findet schlichte Worte, spricht wenn überhaupt von „den sechs Monaten der Hölle“. Die Sicht der Minderheiten des ehemaligen Jugoslawien auf das bisweilen monströse Geschehen ist oftmals eine vermittelte, vorsichtig abwägende. Dafür haben erst jüngst David Albahari und László Végel Beispiele geliefert. Albahari, der als serbischer Jude wegen seiner Rettungsaktion für die Juden Sarajevos 1993 nach Kanada emigierte, beschreibt in seinem im vergangenen Jahr erschienenen großen Roman Die Ohrfeige (Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2007) diese Spannung und latente Aggressivität gegen Minderheiten im Zeichen einer wie auch immer gearteten Bedrohung. Végel, als ungarischer Schriftsteller aus Novi Sad (ungar. Újvidék) in der – heute serbischen – Vojvodina, der im vergangenen Jahr Gast des Berliner DAAD-Künstlerprogramms war, wählt in Exterritorium (Matthes & Seitz, Berlin 2007) die Form der literarischen Erinnerung an die Jugoslawienkriege der 90er Jahre.

Eine andere und besonders durchschlagende Form der Erfahrung und Erzeugung von Andersheit ist die Ziehung von Grenzen. Die moderne Grenze als eine nicht selten von Scheinwerfern und Stacheldraht markierte Nahtstelle unterschiedlicher Systemzusammenhänge ist die wesentliche Antwort des 20. Jahrhunderts auf die Erfahrung von Andersheit und Fremdheit. Und sie scheint auch nach dem Ende des Eisernen Vorhangs nicht verschwunden zu sein, wenn man auf die Sperranlagen zwischen Israel und den Palästinensergebieten blickt und die für das sich „grenzenlos“ wähnende EU-Europa so verstörende Konjunktur der nationalen Ab- und Eingrenzung im postkommunistischen Ost- und Südosteuropa einbezieht.

Universalität der Grenze

Auch für die Autoren in Der andere nebenan ist die Grenze ein nach wie vor verstörendes Faktum des Anderen. Wenn Luan Starova in „Grenzen auf dem Balkan“ auf zwölf nüchternen Seiten das Leid umreißt, das die Erfindung der Grenze seit der albanischen Unabhängigkeit 1912 und die spätere Flucht vom albanischen Pogradec ins jugoslawische Mazedonien für seine Familie bedeutete, dann hat das eine fast symbolische Bedeutung. „Großvater meinte, wir seien die Verfluchten des Balkans“, heißt es da. „Der Fluch werde erst von uns genommen werden, wenn wir die Grenzen, die uns trennten, beseitigt hätten.“ Für den noch unter den Osmanen aufgewachsenen Großvater waren die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gezogenen Grenzen eine komplette Absurdität. Dem großväterlichen Willen widersetzt sich der Vater jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und flieht aus Albanien, das sich in der Folge, wie bekannt, als letzte Zitadelle des Ostblocks hinter 200.000 Betonbunkern verschanzte.
Bei Starova ist es vor allem die Mutter, die an der Grenze leidet und fast verzweifelt, sie durch ihren Lebenspragmatismus zugleich aber erträglich macht. „Ach Junge“, sagt sie zu einem albanischen Grenzbeamten, der ihr nach einem Besuch in ihrer früheren Heimat mit den üblichen Fangfragen die Ausreise erschweren will, „gelitten habe ich hier wie dort. Alles wegen der Grenze.“ Zur Absurdität der Grenze gehört schließlich auch, daß heute, nach dem Systemwechsel, kaum noch irgendwelche Spuren von ihr und ihrem „Höllentor“, wie Starova den Übergang nennt, zu finden sind. Gerade auch mit Blick auf die Diskussion um die deutsche Teilung läßt sich aus Starovas Artikel eine Art Universalität des Grenz-Leids als Teil des modernen Mensch-Seins herauslesen.

Krieg, Bürgerkrieg und Grenze sind nur scheinbar klare Ausformungen des Dilemmas, um das es Der andere nebenan geht: die Krisen und Kolläpse einer historisch gewachsenen, durch das Erbe der multi-ethnischen Reiche der Osmanen, Habsburger und „Jugoslawen“ noch immer stark geprägten Region. Wir erleben, wie in diesem pluralen, posttraumatischen Raum Ordnung, klare und eindeutige Zuschreibungen, die Reinheit der Nation etc. zu Idealen erhoben werden, denen gegenüber das verstörend Babylonische des Alltags, jegliche Gegenbewegung und Opposition als Bedrohung empfunden werden. Das ist der eigentliche Raum des „anderen“, in den die meisten Texte kritisch vordringen wollen, und je nach Standpunkt der Autoren, als Angehöriger einer Mehr- oder Minderheit, als streitbarer, geschaßter oder gar exilierter Intellektueller ist die Perspektive auf die Dinge eine völlig andere.

Der andere und das Anders-Sein

Zwei Positionen von Schriftstellern des Exils sind zum Beispiel die von Charles Simic und Aleksandar Hemon. Simic etwa, der 1953, mit 15 Jahren, von Belgrad in die USA auswanderte, thematisiert in seinem „Odrod“, Renegat, betitelten Essay in markig-ironischer Weise die wütenden Reaktionen, die sein offenes Engagement gegen Miloševic in Serbien hervorrief. Den Verräterrufen begegnet Simic mit dem fundamentalen Vorwurf, daß die Serben sich der Diskussion über ihre eigene Vergangenheit verweigerten. „Es ist wie eine Familie, die sich jeden Tag zum Abendessen zusammensetzt und so tut, als ob die Oma den Postboten nicht mit der Schere erstochen“ hätte, heißt es bei Simic. Bei Hemon, der aus Sarajevo stammt und inzwischen in Kanada lebt, gipfelt die Auseinandersetzung mit dem anderen in dem unbefriedigenden Versuch, auf die Frage „Was bin ich?“ zu antworten. „So sage ich, ich sei kompliziert“, schließt Hemon seinen Text mit dem Titel „Anders-Fragen“, „ich sage, es sei noch zu früh für eine Erklärung“. Beide Texte wurden übrigens im Original auf Englisch verfaßt.
Ein fast prototypisches Beispiel für die universale Involviertheit von Interessen, Zuschreibungen und Identitäten sind die Geschichten, die Miljenko Jergovic in „Dort, wo andere Menschen leben“ erzählt. Wiederum bildet die Familie den Hintergrund, aus deren großem Panoramabild einige Strecken herausgelöst werden. Da gibt es etwa den Großvater Karlo, der aus einer deutschen Familie stammte, einem kulturellen Vorbild verbunden, das ihn allerdings nicht davon abhielt, mit seiner Familie Kroatisch „mit vielen Turzismen“ zu sprechen. Der während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg seine serbischen Nachbarn im Keller versteckte und die marodierenden kroatischen Ustascha-Milizen mit den Worten abwies: „Das hier ist ein deutsches Haus, hier kommt ihr nicht hinein.“
Auch eine andere Äußerung Jergovics – von zahllosen weiteren – ist aufschlußreich, in der er nämlich über den Haß spricht. Als Kroate, der aus Sarajevo stammt, lehnt er jegliche Form von Haß nicht etwa deswegen ab, weil er grundsätzlich unfein ist, sondern weil er sich mit diesem Haß selbst gefährdet. „Ohwohl ich Kroate bin, bedrohte er den Serben und den Bosnier (Moslem) in mir.“ Gegen eine solche vielfältig gebrochene Identität nimmt sich sogar der respektablen Aufsatz des gefeierten albanischen Literaten Ismaïl Kadaré, in dem er im Gespenst von Hamlets Vater bis hin zum Marxschen „Gespenst des Kommunismus“ das andere erblickt, fast ein wenig altbacken aus.

Die Kentauren

Den schlichtesten, zugleich aber wohl prägnantesten Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem anderen liefert László Végel in „Vertraute Fremde“. Er schreibt als Vojvodiner Ungar ganz klar aus einer Minoritäten-Perspektive heraus. Mit dieser Situation im Hintergrund unterscheidet Végel das „andere“ – interessanterweise im ganzen Buch klein geschrieben – auf der einen vom „Anders-Sein“ (groß geschrieben!) auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung muß man sich ein bißchen auf der Zunge zergehen lassen. Der andere erscheint so als klar gekennzeichneter, mit ganz bestimmten, im Grunde beruhigenden Attributen behafteter, äußerer Bereich. Das Klischee eines Franzosen, eines Tschechen oder meinetwegen auch eines Bayern oder Türken mag ein Klischee sein, aber es transportiert eine eindeutige Fremdheit, mit der sich problemlos operieren läßt. Anders das Anders-Sein, was – wie in Jergovics Haß-Formel – nichts anderes als die Doppel- oder Mehrfachidentität meint. So kann ein Serbe eben auch ein Jude sein, wie bei David Albahari, oder ein Ungar wie Végel selbst – der im übrigen in beiden Sprachen publiziert – oder gar alles drei zusammen, wie der bereits verstorbene, ebenfalls aus Novi Sad stammende Aleksandar Tišma.
Nichts ist so beunruhigend wie das Bekannte im Fremden, weil es das Vertraute, Kalkulierbare mit einem Moment der Ohnmacht versieht. Es ist genau dieser Bereich, sagt Végel, der von den Nationalstaaten immer wieder totgeschwiegen wurde und in dem im Namen einer Nation oder politischen Überzeugung die schlimmsten Verbrechen begangen wurden. So spricht er von den nationalen Minderheiten des östlichen Europa als den letzten Kentauren, den „europäischen Bastarden“. Und er spart auch nicht mit Kritik an einem sich überstaatlich gebenden Europa der 27, das dennoch nur die altbekannte Rhetorik gelten läßt. „Das andere spricht die herrschende Sprache des Nationalstaats, die Sprache des Anders-Seins hingegen entsteht außerhalb der Macht, an der Grenze zum Nirgendwo, im Niemandsland“, heißt es bei Végel. Und weiter: „Als Stiefkinder bekommen die nationalen Minderheiten keinen Platz in den Salons des herrschaftlichen Hauses, wo sie sich des Anders-Seins rühmen könnten.“ Aus dieser pessimistischen, wenngleich realistischen Sicht erscheint es fast konsequent, wenn Végel Holocaust- und die Massengrab-Kultur als die Charakteristika des 20. Jahrhunderts ansieht. Erschreckend ist vor allem, auf was für eine einfache Formel sich die Systemzwänge, in den wir noch immer existieren, und vielleicht auch das fortwährende Scheitern Europas auf dem Balkan bringen läßt. Oder aus der Perspektive des Ungarn aus der Vojvodina: „Das narzisstische europäische andere hat obsiegt: Es hat das Anders-Sein niedergerungen.“

Noch viele weiter Positionen in Der andere nebenan wären zu nennen, die sich dem Thema auf ihre ganz individuelle Weise nähern. Nenad Velickovic etwa treibt ein amüsant-hintergründiges Spiel mit seinem Alter Ego, seinem „Bedel“ – so der Titel –, der in sieben an den „sehr geehrten Herrn Herausgeber“ gerichteten Briefen begründet, warum der Autor Nenad Velickovic für die Anthologie völlig ungeeignet sei. Immerhin erfahren wir dabei, welche Fragen – etwa „What is the relation to the ‚other‘?“ – den Autoren als Anregung zum Verfassen ihrer Texte gedient haben. Oder die Slowenin Maruša Krese, die sich während eines inspirativen Spaziergangs an der Ljubljanica mit den Widersprüchen ihrer eben als Musterland in der EU angekommenen Heimat auseinandersetzt. Einen ganz anderen Blick hat Irena Vrkljan, wie Krese seit langem schon in Berlin lebend, die in „Planet Mila“ einer befreundeten Schriftstellerin nachtrauert, die nach ihrer Flucht von aus Belgrad Anfang der 90er Jahre in ihrer kargen Berliner Exilwohnung von allen Gedichten verlassen wurde und nur noch einmal in die alte Heimat zurückkehren wollte, um dort zu sterben.

Das Eigene und das Andere, Kunst und Moderne

Beachtenswert an der Anthologie Der andere nebenan ist auch die Tatsache, daß der Band zeitgleich in allen beteiligten Ländern in Übersetzung erschienen ist. Damit liegt eine schöne Anregung zum Diskutieren über sprachliche und nationale Grenzen hinweg vor – sicherlich nicht die einzige, aber doch eine sehr gehaltvolle. Neue Grenzziehungen werden darin wie gesehen vermieden, dafür manche Zuspitzung vorgenommen, was aber nur dort gelingt, wo die Dinge nicht durch ihre schiere Komplexität automatisch „historisch“ werden. Da eindeutige Zuschreibungen zum Scheitern verurteilt sind, gelingt es dem Buch leider nicht, etwa dem Begriff Balkan das Schillernde zu nehmen – aber wäre das wünschenswert? Der albanische Schriftsteller Fatos Kongoli schreibt an einer Stelle in „Eine einfache Wahrheit“, daß die Menschen des Balkans immer nur auf ihre eigenen Interessen, ihre Geschichte und Mythologie ausgerichtet seien und es ihnen schwer falle, die jeweils „andere Seite der Medaille“ zu betrachten. Vielleicht wird der Balkan sein scheinbar typisches Image als „Randprovinz“ Europas in dem Moment verlieren, wo den Menschen genau das gelingt?

Mit dem deutschen Historiker Thomas Nipperdey läßt sich die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen (groß geschrieben!) auch auf einer anderen Ebene diskutieren: der Ebene der Kunst nämlich. Für Nipperdey, der sich vor allem auf Deutschland im 19. Jahrhundert bezieht, verkörpert die Kunst immer etwas Emanzipatives, denn sie hat letztlich die Moderne aus der Taufe gehoben. „Das Andere und das Eigene – das ist der Ansatz für die Modernitätsfähigkeit der Bürger.“ Zwar hat der Südosten Europas einen gänzlich anderen, ungleich schwierigeren Weg in die Moderne genommen als der Westen. Aber das Zitat läßt hoffen, daß die 21 Künstler, die in Der andere nebenan zu Wort kommen, auch eine Stimme haben.


p.w. / red. – 3. Februar 2008
ID 00000003679
Mit Beiträgen von David Albahari, Vladimir Arsenijevic, Bora Cosic, Beqë Cufaj, Dimitré Dinev, Slavenka Drakulic, Aleksandar Hemon, Drago Jancar, Miljenko Jergovic, Ismaïl Kadaré, Fatos Kongoli, Maruša Krese, Charles Simic, Biljana Srbljanovic, Saša Stanisic, Luan Starova, László Végel, Nenad Velickovic, Dragan Velikic, Irena Vrkljan und Vladimir Zarev.

Die Anthologie ist gleichzeitig in Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien erschienen.

Erwähnte Bücher:
David Albahari: Die Ohrfeige. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2007. 366 Seiten, 22,90 Euro.
László Végel: Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007. 192 Seiten, 18,80 Euro. (Erschienen als Band 20 der Reihe DAAD Spurensicherung.)


Siehe auch:
http://www.fischerverlage.de/





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