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Rezension

Abraham Sutzkever, "Wilner Getto 1941-1944"

Aus dem Jiddischen von Hubert Witt
Ammann 2009
ISBN 9783250105305


"´Als die Rasur beendet war, bot Kittel dem Barbier eine Zigarette an. Dabei fragte er höflich: ´Brauchst du Feuer?´ ´Ja, antwortete der Jude und hielt dem Kunden die Zigarette hin. Kittel zog den Revolver: ´Da hast du Feuer´ Und erschoss ihn auf der Stelle. Der Schuß war gleichzeitig das Signal für Weiß und seine Horde, das Gemetzel", das klingt wie die Beschreibung eines Filmbeginns, "Wie ich von meinen Erlebnissen in Ponar erzählt habe, da hat mir mein eigener Vater nicht glauben wollen." Wer Abraham Sutzkevers Bericht (Verlag Ammann) über das "Wilner Getto 1941 – 1944" gelesen hat, ist verändert. Er weiß, dass das nicht ausgedacht ist, dass Männer Kinderköpfe an die Wand schleuderten, jüdischen Kindern die Gesichtshaut entfernt wurde, um sie verletzten Soldaten zu transplantieren, dass ein Deutscher sich einen Flügel ins Ghetto schleppen ließ, um mit der linken Hand Musik zu spielen, während er mit der rechten schoss. Er erfährt von Widerstandsversuchen: "Die Künstlerin hörte Tag und Nacht, wie die Mäuse mit ihren Füßen im Wasser planschten, und durch die Gewölbe widerhallten ihre wunderlichen Klänge; zugleich wurden in den Wassern allerlei Glas- und Blechstückchen, auch Steinchen mitgeschwemmt, und das alles mitsamt den Mäuseklängen erzeugte für die Künstlerin solche Harmonien, dass sie in den Kanalröhren eine Komposition schrieb." Das jüdische Leben wurde so organisiert, dass von jeder Familie einige Mitglieder überleben könnten. Kulturschätze wurden vergraben. Lebensmittel und Waffen ins Getto geschmuggelt (sie konnten unter Lebensgefahr ins Getto geschmuggelt werden), Pistolen in Eimern mit doppeltem Boden versteckt, "Die Eimer standen, mit Wasser gefüllt, vor aller Augen." "Für heute bin ich satt, ich werde dich ein andermal fressen", deutsche und litauische Faschisten rotteten Juden allmählich aus, um den eigenen Arbeitsplatz nicht zu gefährden und an die Front zu müssen. Der deutsche Bürger kann beruhigt sein: Die Propagandafilme, die in Lazaretten und Gettos inszeniert, gefilmt und den Deutschen gezeigt wurden, zeigten Fürsorgliches. Eine Jüdin, Sabina Spielrein, die als Psychoanalytikerin in Deutschland zeitweilig gelebt und gearbeitet hatte, hielt Nachrichten über die Ausrottung von Juden durch Deutsche für eine Propagandalüge von Bolschewisten. (Siehe Geschichte der Psychoanalyse in Russland / Gustav Kiepenheuer) Die Ermordeten hinterließen Berge von Schuhen. Abraham Sutzkever sah die Schuhe seiner Mutter. Juden erstickten Kinder, wenn sie in Malinen (Verstecken) weinten, um nicht alle, die sich versteckt hielten, zu gefährden, ´Wie hält das eine Mutter aus, das sie zum Mörder ihres Kindes gemacht worden war?´ Der Zeitzeuge Abraham Sutzkevers zählt im Buch eine Vielzahl Namen auf, als könnten Namen etwas von den Menschen, die gefoltert, ermordet wurden, bewahren. Als lebende Juden tote Juden verbrennen sollten, durften sie nicht von Menschen oder Leichen reden, sie mussten sie Figuren nennen. Zwei Beine, zwei Arme galten als eine Figur. ´Du kannst dir einen Menschen zum Tier erklären, dann darfst du ihn schlachten.´ Der Dichter Abraham Sutzkevers sagte, er habe nie wieder so viel und so gut geschrieben wie in der Gettozeit. Möglicherweise stimmt das. Es ist aber ein gefährlicher Satz, weil sich Kunst- und Kulturmanager damit rechtfertigten, dass sie Künstler in finanziellen Notsituationen lassen müssen, damit sie leiden und bedeutende Künstler werden können. Wer Vorurteile verhindern will, muss Informationsmaterial liefern. Literatur ist Informationsmaterial ohne Propagandasätze, die misstrauisch stimmen. Zur Buchvorstellung im großen Saal des Jüdischen Museums waren fast alle Stühle besetzt. Der Besucher hatte, um das Haus betreten zu können, Kontrollen passieren müssen. Juden waren an den Eingängen ins Getto kontrolliert worden, ob sie Lebensmittel oder Waffen tragen. Heutzutage könnten die Taschen und Menschen durchleuchtet, jede Bewegung registriert werden. Hubert Witt ist nicht nur Übersetzer, er ist Nachdichter. Er gilt als der engagierteste und bedeutendste Nachdichter aus dem Jiddischen. Er hätte den Paul-Celan-Preis verdient. Preisverleihungen sind in den Literaturmarkt integriert. Was auf einem Markt geschieht, ist marktorientiert. Abraham Sutzkever kämpfte unter anderem mit Zeitschriften dagegen an, dass das Jiddische, seine Muttersprache, in Israel nicht zerstört wird, erhalten bleibt. Hubert Witt konnte in geduldiger Überzeugungsarbeit erreichen, dass im Ammann-Verlag auch die Gedichte von Abraham Sutzkever gedruckt wurden. Es sind Gesänge vom Meer des Todes.. "Jedes einzelne Gefühl / beißt das andere in die Gurgel", "mit deinem Sterben im Kopf, / das mich sättigt und nähr" Und kann ich dich nicht finden / will ich in Wörern graben, in Klängen schaufeln", "Es werden ihm die Gebeine von meinem Kind / eine Fiedel sein", "Dies ist der Fluch der Zeit: wenn sich die Blinden / von lauter Geisteskranken führen lassen" Witt übersetzte die Gedichte so, dass keine Übersetzungsverluste entstehen konnten.


i. e. - red. 9. November 2010
ID 00000004915
Abraham Sutzkever, "Wilner Getto 1941-1944"
Aus dem Jiddischen von Hubert Witt
Ammann 2009
272 S.
Gebunden mit Schutzumschlag
EUR (D) 22.95 /
CHF 39.90 (UVP) /
EUR (A) 23.60
ISBN 9783250105305

Zu beziehen beispielsweise über http://www.libri.de


Siehe auch:
http://www.ammann.ch





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