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Rezension

"Moscoviada" und Ucrainensia

Eine Lesung mit dem ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch im Dresdner „Kulturhaus Loschwitz“




Er ist ohne Zweifel ein gefragter Mann, der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch aus Ivano-Frankivs’k im Karpatenvorland. Auf der jüngsten Frankfurter Buchmesse eilte er, wie zu erfahren war, von Interview zu Interview. Im vergangenen Jahr beteiligte er sich federführend an einem „Last & Lost“ betitelten Symposion, das an illustrer Stelle, an der Berliner Volksbühne abgehalten wurde und sich den vergessenen, literarisch wenig beleuchteten Winkeln Europas widmete. Im Münchner Literaturhaus war damals eine ausgesprochen gelungene, von Rudolf Scheutle kuratierte Fotoausstellung zum Thema zu sehen. Und passend zu alledem erschien beim Suhrkamp Verlag ein „Atlas des verschwindenden Europas“ mit den Fotos und schönen Texten, der seither in allen Buchhandlungen ausliegt und auf große Käuferschaft wartet. Andruchowytsch, der sich nicht erst seit „Last & Lost“ als Sendbote der literarischen Ukraine und zugleich auch als Moderator im kulturellen Annäherungsprozeß zwischen Ost und West empfohlen hat, tingelt ansonsten durch die Lande, um aus der wachsenden Zahl seiner in Übersetzung vorliegenden Bücher zu lesen.
So auch am vergangenen Montag an idyllischer Stelle, im kleinen, bis auf den letzten Platz besetzten „Kulturhaus“ im Dresdner Stadtteil Loschwitz. Angesetzt war die dortige Veranstaltung als Lesung. Vor zwei Monaten erschien auf Deutsch endlich Andruchowytschs Roman Moscoviada, den er bereits im Jahr 1992, während eines dreimonatigen Stipendiums, dem ersten im westlichen Ausland, im bayerischen Städtchen Feldafing geschrieben hatte. Er erzählt einen Tag im Leben eines ukrainischen Nachwuchsautors mit dem ungewöhnlichen Namen Otto von F., der im Mai 1991, kurz vor dem Ende der Sowjetunion, am Moskauer Literaturinstitut „Maxim Gorki“ studiert. Otto von F. beginnt seine Odyssee in dem Wohnheim, in dem er lebt, „diesem siebenstöckigen Labyrinth mitten in der schrecklichen Hauptstadt, im von Fäulnis befallenen Herzen des nur noch halb existenten Imperiums“. Er beendet den Tag nach allerhand rauschhaften, wahnwitzigen Episoden, die alle Register lustvoller und ironischer Fabulierkunst ziehen, sturzbetrunken und mit einer Kugel im Kopf im Nachtzug nach Kiew, auf dem Weg in die Heimat.

Mit einer Kugel im Kopf auf dem Weg in die Heimat

Auffällig an der Prosa des Juri Andruchowytsch ist stets der schiere Genuß, mit dem sie erzählt wird. Das unterscheidet ihn auch beispielsweise von seinem tschechischen Kumpanen Jáchym Topol, dessen Bücher, vor allem sein Mammutroman Die Schwester von 1994 (dt. 1998), sich in ihrer demonstrativen Schrillheit den Vorwurf des Manierismus wohl gefallen lassen müssen. Bei Andruchowytsch mag so etwas zu spüren sein – es ist ihm egal, und man merkt dem Mann das relaxte Vergnügen an, das ihm jede Zeile bereitet, die er da schreibt. Ein – wie er es nannte – „Fragment“ des Romans befaßt sich zum Beispiel mit dem armen Ruslan, der sein Leben läßt, weil „das Imperium“, in dem es immer genug zu trinken gab, im Frühjahr 1991 kaum noch Wodka hat und er beim Besorgen desselben von einer Feuerleiter stürzt. Poor boy, mag man da murmeln und wird mit einem leichten Grinsen weiterlesen, das fürderhin kaum aus dem Gesicht verschwinden wird.
Da es in den Moscoviada immer auch um den manchmal schon fast übermenschlichen Konsum geistiger Getränke geht, stand bei der anschließenden Gesprächsrunde sehr schnell das Wort von der „Wodkaphilosophie“ im Raum – als Versuch, Bezüge herzustellen, die nicht viel taugten. Es spiegelte auch schön die Gedanken der interessierten Andruchowytsch-Fangemeinde wider: Die einen betrieben ein bißchen name-dropping, Kafka, Dostojewski oder wer noch alles, während sich die übrigen Fragenden mehr am Topos des „unbekannten Ostens“ abarbeiteten. Der Autor selber, dem diese Veranstaltung im kleineren Kreis sichtlich behagte, nahm die ihm hingeworfenen Fäden gerne auf und antwortete bereitwillig, spann ein paar Episoden rund um die Entstehung der Moscoviada mit ein, erzählte zum Beispiel von dem in der Wendezeit auftauchenden mysteriösen Nachfahren halbmythischer ukrainischer Herrscher, Olelko II., den er im Roman mehrmals erwähnt, sprach auch von der Zukunft seines Landes und von der gespaltenen Haltung vieler Ukrainer zu ihrer eigenen Geschichte.
Wie so oft wurde aus dem, was als Lesung begonnen hatte, am Ende eine kleine Werbeveranstaltung für die Ukraine. Die Versammlung stellte verdutzt fest, daß sie noch immer hauptsächlich in Klischees über das zweitgrößte Land Europas denkt, ohne sie indes überwinden zu können. („Der Visumzwang ist aufgehoben!“ wollte man die ganze Zeit ins Publikum rufen.) Dabei hat Andruchowytsch bei der Verleihung des Leipziger Preises zur europäischen Verständigung im März diesen Jahres die lethargische Haltung des Westens gegenüber seinem Land schon einmal mit aller gebotenen Schärfe kritisiert.
Leider trat über all diesem kulturpolitischen Wiederkäuen der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der interessanter gewesen wäre, völlig in den Hintergrund: der belesene, experimentierfreudige Schreiber, der seit mehr als zwei Jahrzehnten das literarische Leben seines Landes mit opulent-ironisch-absurder Erzählkunst und schillernder Lyrik bereichert, und zwar dezidiert gegen das sich immer weiter verbreitende Russisch und seinen ukrainischen Bastard, das Sowok, auf Ukrainisch schreibend. In Deutschland ist er inzwischen zumindest ins Bewußtsein der Feuilletons und der literaturinteressierten Öffentlichkeit gerückt, weswegen er nicht nur als eine Art Stimme der Ukraine auftritt, sondern auch bisweilen poetologische Statements abgeben kann. In dem kürzlich beim Göttinger Wallstein Verlag erschienenen Bändchen Wohin geht das Gedicht? plaudert Andruchowytsch über seine profunden Erfahrungen als Lyriker, was solch schöne Äußerungen zutage fördert wie: „Poesie ist eine Folge der Unzulänglichkeit der Sprache, ihrer Endlichkeit und Begrenztheit, Poesie ist ein Mittel, ein bißchen weiter zu gehen, als uns die Sprache üblicherweise führt.“ Leider ist Andruchowytschs Lyrik bis auf seine Lemberg/L’viv-Gedichte, die 1995 unter dem Titel Spurensuche im Juli im winzigen Reichelsheimer Brodina Verlag erschienen sind, bisher noch kaum ins Deutsche übertragen worden. Da gibt es sicherlich noch eine ganze Welt zu entdecken.

Spitze gegen westliche „Interessiertheit“ an der Ukraine

Eine Lesung mit Juri Andruchowytsch läßt auch immer ein wenig das Dilemma durchscheinen, das ein Thema seines Roman Zwölf Ringe darstellt. Hier verliebt sich der österreichische Fotograf Karl-Joseph Zumbrunnen in die Ukraine in Gestalt seiner Dolmetscherin Roma Woronytsch, findet jedoch am Ende vor der großartigen Kulisse eines riesenhaften alten Observatoriums in den Karpaten einen ziemlich prosaischen Tod, bei dem wiederum viel Alkohol im Spiel ist. Die ironische Pointe des Romans, die man gleichsam als Spitze gegen westliche Interessiertheit an der Ukraine, zumal in der Folge der „orangenen Revolution“, lesen kann, ist, daß letztendlich die Aufklärung des Todes und die Bestrafung der Mörder nur durch das Eingreifen des lokalen Obermafiosos (und Besitzers des Observatoriums) gelingt.
So wird Juri Andruchowytsch wohl noch eine ganze Weile lang in erster Linie als inoffizieller Kulturattaché durchs Land reisen und Auskunft geben über das große unbekannte Land Ukraine, schon weil sich die oligarchisch strukturierte, nach wie vor mit ihrem Sowjeterbe hadernde Staatselite um derlei Dinge kaum kümmern zu können scheint. Aber nicht nur, daß es dem Mann Freude bereitete – auch wir, das Publikum, hatten unseren Spaß. Und vielleicht wird man um Länder wie die Ukraine einst gar nicht mehr so viele aufklärerische Worte machen müssen, sondern einen Autor aus Ivano-Frankivs’k, vom Fuße der Karpaten, einfach nur gut finden können.


p.w. / red. – 13. Oktober 2006
ID 2733
Bücher von Juri Andruchowytsch in deutscher Übersetzung:

Spurensuche im Juli. Gedichte, Brodina Verlag (Reichelsheim) 1995
Das letzte Territorium. Essays, Suhrkamp Verlag 2003 (es 2446)
Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa, zusammen mit Andrzej Stasiuk, Suhrkamp Verlag 2004 (es 2370)
Zwölf Ringe. Roman, Suhrkamp Verlag 2005
Moscoviada. Roman, Suhrkamp Verlag 2006


Siehe auch:
http://www.suhrkamp.de/






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