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Werkbetrachtung

Engländer in der Campagna

von Carl Spitzweg



Der arme Poet zählt zu den Lieblingsbildern der Deutschen. Der spätromantische Biedermeier-Maler Carl Spitzweg (1808-1885) hat es 1839 gemalt. Das Bild des Dichters, der in einer ärmlichen Dachkammer mit Brille und Schlafmütze unter einem aufgespannten Regenschirm im Bett sitzt und einen gerade gefangenen Floh betrachtet, hat es als Puzzle, Poster oder Postkarte in fast jeden deutschen Haushalt geschafft. Die großen, wertvollen Bücher vor seinem Bett sollen dem Poeten den Weg zum Parnass weisen. Spitzweg war ein Meister der kleinformatigen, ironischen Genreszenen, aber selber kein Stubenhocker.

Das Aquarell Engländer in der Campagna hat er ein paar Jahre später gemalt. Mit seinem "spitzwegischen", feinen und spitzfindigen Witz nimmt er auf 40 x 50 cm die Bildungsreisenden aufs Korn, genauer gesagt, eine englische Reisegesellschaft, die sich wie bestellt und nicht abgeholt in der Nähe einer Ruinenlandschaft in der Campagna Romana (dem hügeligen Gebiet um Rom) aufhält.



Engländer in der Campagna von Carl Spitzweg | Bildquelle: Wikipedia


Bei dem Mann im dunklen, engen Gehrock Mitte links im Bild handelt es sich wohl um den Cicerone (den Reiseleiter). Wie es die damalige Mode vorschreibt, hält er in der linken Hand einen Spazierstock, mit dem er auf einen halb zugewachsenen Steinblock deutet. Vielleicht will er der Gruppe gerade weismachen, eine Ruine entdeckt zu haben. Auch sein röhrenförmiger Zylinder und die Krawatte entsprechen ganz dem Zeitgeist. Seine rechte Hand weist wichtigtuerisch und affektiert in die Ferne; gleichzeitig wendet er seinen Kopf nach hinten und versucht, die Aufmerksamkeit der Reisenden zu erhaschen, was ihm nur teilweise gelingt. Der junge Engländer neben ihm strahlt gepflegte Langeweile und Arroganz aus. Er trägt eine Stilbrille und einen hohen, hellen Hut mit einer geschwungenen Krempe. Seine hellblaue Jacke scheint bequemt zu sein. Zu einem seltsamen Beinkleid trägt er ein Hemd in altrosa mit einem hohen Kragen. Spitzweg hat ihn farblich perfekt in die Landschaft gestellt. Der Mann liest wahrscheinlich die Aufzeichnungen eines früheren, illustrierten Reisenden und ignoriert in überheblicher Voreingenommenheit den Cicerone. Wahrscheinlich hat er sich etwas anderes vorgestellt. Die Frau mit der gebildeten Brille auf der Nase hingegen hört ihm aufmerksam zu und hält ihr Buch unter dem linken Arm. Hinten rechts steht eine zweite Frau mit dem Rücken zum Betrachter. Sie hat sich von ihrem Malschemel erhoben und skizziert eifrig die mythische Ruinenlandschaft im Hintergrund. Die lieblichen Berge und Hügel sind vielleicht die Sabiner Berge. Es ist früher Nachmittag und wahrscheinlich warm. Der Mann ganz rechts lehnt gähnend an einem Grenzstein, auf dem ein weiteres Buch liegt. Er ist bepackt mit Kleidungsstücken und Regenschirmen. Seine Rolle ist nicht ganz klar. Tourist ist er jedenfalls nicht, und sein grüner Zylinder gleicht dem des Reiseleiters. Die Ladies tragen ebenfalls aufwendige, helle Kopfbedeckungen und passen farblich mit ihrer taillierten Stadtbummel-Garderobe perfekt in die braun-grün-sandige Landschaft mit den blauen Bergen und farbigen Gräsern. Die Ruinen werden ihrem Namen gerecht und mussten im Verlauf der Zeit immer wieder als Steinbruch und Kuhweide herhalten. Den früheren Tempel erkennt man nur noch mit Fantasie und Wissen. Eifrige Touristen dürften aber auch mit einer Scherbe im Gepäck die Rückreise angetreten haben. Johann Gottfried Seume bejammerte schon um 1800 am Vergil-Grab bei Possilippo den Souvenirkult in seinen Reisebeschreibungen, "den Lorbeer suchst Du nun umsonst: die gottlosen Afterverehrer haben ihn so lange bezupft, dass kein Blättchen mehr davon zu sehen ist“. Spitzweg inszeniert die Szene in einem gekonnten farbigen Licht- und Schattenspiel, bei dem jeder Protagonist seine Rolle zu spielen hat.


Das Aquarell Engländer in der Campagne entsteht 1845 und hängt in der Alten Nationalgalerie Berlin.

So eine Grand Tour war natürlich nicht nur Zitronen- und Ruinenromantik. Das Reisen in den Postkutschen war mühsam, die Unterkünfte oft schmutzig und vollkommen überteuert und das Essen ungewohnt. Vor Wegelagerern (und schlitzohrigen Reiseleitern) musste man sich in Acht nehmen. Und die Ruinen waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Im 19. Jahrhundert war der Massentourismus in Italien schon erfunden, und die Abenteuer suchenden Bildungsreisenden hatten kaum noch eine Chance, sich mit einem Buschmesser eine Schneise zu einem noch unentdeckten und von Schlingpflanzen überwucherten Tempel zu schlagen. Alles war überlaufen und Lord Byron meinte 1817 gar „dass die Stadt (Rom) mit Engländern verseucht sei“.

Christa Blenk - 14. März 2021
ID 12813
Carl Spitzweg verband eine enge Künstlerfreundschaft mit dem Landschaftsmaler Eduard Schleich. Die beiden Autodidakten unternahmen gemeinsam unzählige Reisen und Wanderungen. Spitzweg selber war finanziell recht unabhängig, liebte seine Nickelbrille und kleidete sich gerne nach der neuesten Mode. Bei seinem Malstil hingegen blieb er konservativ und verweigerte sich den aufkommenden, neuen Kunsttendenzen, was ihn manchmal in die Kitsch-Ecke stellte. Auch wenn er sich am Ende seiner Karriere zaghaft dem Impressionismus annäherte, sind seine Werke geprägt von der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, von Hogarth oder Daumier. Spitzweg hat ohne Pathos, mit großem Farbgefühl und mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe die kleinbürgerliche Biedermeier-Welt und die menschlichen Unzulänglichkeiten anekdotenreich erzählt, ohne sie zu verurteilen. Hinter seinem scharfsinnigen, intelligenten Witz verbirgt sich oft Kritik an Politik, Gesellschaft und Religion, die aber von der damaligen Zensur nicht erkannt wurde.

Der Apotheker und Botaniker Carl Spitzweg hat über 1.500 Bilder und Zeichnungen gemalt und war als Illustrator der Fliegenden Blätter sehr gefragt.


Wikipedia-Link zu Engländer in der Campagna von Carl Spitzweg


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