Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 4

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Werkbetrachtung

Die Ährenleserinnen von

Jean François Millet (1814-1875)



Die Geschichte von Ruth und Boaz im Alten Testament beginnt auf einem abgeernteten Gerstenacker. Ruth ist fleißig bei der Arbeit und sammelt die Reste ein, die Bauern und Erntehelfer bewusst haben liegen lassen, denn so soll es laut Moses‘ Gesetz sein. Gutsbesitzer und wohlhabende Bauern waren dazu verpflichtet, nicht alles einzuholen, um auch den Ärmsten Getreide zukommen zu lassen. Die Auslegung dieser Vorschrift allerdings wurde sehr unterschiedlich gehandhabt, und nicht alle waren so großzügig wie der wohlhabende und edle Boaz. Er nämlich wies seine Erntehelfer an, möglichst viel zurückzulassen, und so ging Ruth, die Ausländerin, die Moabiterin, jeden Tag fleißig hinter den Schnittern her und sammelte liegengebliebene Körner und Halme ein. Ruth und Boaz kamen sich trotz sozialer und kultureller Unterschiede näher und wurden, nach Überwindung einiger Hürden, ein Liebespaar. Mehrere Künstler haben sich an diesem Bibelthema inspiriert. Eines der bekanntesten Bilder der neuzeitlichen Kunstgeschichte:

Die Ährenleserinnen von Jean-François Millet (1814-1875).



Die Ährenleserinnen von Jean-François Millet | Bildquelle: Wikipedia


Bis zur Abenddämmerung dauert es noch ein wenig. Die letzten Sonnenstrahlen dringen durch den Schleier aus Spätsommerwolken und aufgewirbeltem Erntestaub und färben den Himmel in schmutziges altrosa. Das Getreidefeld ist abgemäht, und nur noch vereinzelte, stoppelige Halme stechen aus dem kargen Boden hervor. Die Arbeit der drei Frauen im Vordergrund hat gerade begonnen. Sie haben wahrscheinlich am Rain gewartet und übernommen, sobald für die Erntehelfer und Knechte des Gutes diese Arbeit getan war. Sie dürfen das, denn es ist immer noch ungeschriebenes Gesetz, dass die liegen gebliebenen Ähren eingesammelt und mitgenommen werden dürfen und niemand deswegen behelligt werden darf. Die linke Frau hat sich ihr Bündel mit den Getreidehalmen auf den Rücken gebunden. Die zweite steckt ihren Fund in eine Schürzentasche seitlich vorne. Die dritte Sammlerin rechts hat sich gerade halb aufgerichtet und bindet ihre magere Ährenausbeute zusammen. Sie steht im rechten Winkel zu den anderen Frauen, die mit gestrecktem Rücken ruhig weiterarbeiten. Millet hat für die Röcke und Hemden der Arbeiterinnen die sie umgebenden Farben der Landschaft benutzt. Die helle Kopfbedeckung der halb stehenden Frau dient als Brücke zu der Handlung im Hintergrund, wo die Arbeit nach der eingeholten Ernte weitergeht. Das geschnittene Getreide formt nun große, gelbe Hügel, Puppen oder Hauste. Ein Pferdewagen ist schon beladen und wird von einem, auf dem Getreide sitzenden Mann festgezurrt. Ein anderer Arbeiter ruft den Männern ganz oben auf dem Getreideberg etwas zu. In der Mitte bringen Erntehelfer die gebündelten Garben zu den Dreschern, deren gebückte Rücken man vor einem großen Heuhaufen erkennen kann. Eine große Vogelschar symbolisiert rechts am Himmel das dritte Glied der Erntehierarchie und wartet ihrerseits auf eine Chance, sich bei den Resten der Reste zu bedienen. Vor dem Dorf rechts sitzt ein Vorarbeiter auf einem Pferd und gibt Anweisungen. Die drei Frauen lassen sich davon, was weiter hinten passiert, weder ablenken noch beeindrucken und ignorieren das Geschehen. Sie bilden ein Universum für sich, sind abgeschirmt vom Rest der Welt. Millet hat sie als stumme und kommunikationslose, eingefrorene Choreografie in den Raum gestellt. Während Gebäude und Ställe mit den hellen Dächern noch im Licht der Dämmerung liegen, arbeiten die Frauen im Vordergrund schon im Schatten, können so aber die Stoppeln besser wahrnehmen. Diese sogenannte Nachlese war traditionell denjenigen vorbehalten, die selber keinen Grundbesitz hatten. Ein freundlich gesinnter Boaz, der den Sammlerinnen jeden Tag eine gute Ration zukommen lässt, ist allerdings hier nicht in Sicht, und die Auslese der Frauen scheint eher mager auszufallen.


Millets Farbpalette ist naturgetreu, nichts ist verfremdet und die Körper sind anatomisch perfekt. Er gibt den Frauen Würde, taucht sie in zartes Licht, und ihre Bewegungen sind vornehm, beinahe elegant. Es ist ein behutsames, ruhiges, sensibles, ja intimes Bild, so als ob den Künstler die Szene persönlich berührt hätte. Fast 10 Jahre hat Millet sich mit diesem Thema befasst, um dann eines seiner bedeutendsten Bilder zu malen.

Christa Blenk - 3. März 2023
ID 14081
Das Gemälde Die Ährenleserinnen misst 83,5 x 111 cm, entstand 1857 und hängt heute im Pariser Musée d’Orsay. Millet Werk, mit dem er sich komplett vom Akademismus abgewendet hat, wurde 1857 im Salon gezeigt, hart kritisiert und verrissen. Niemand wollte in diesem Moment die Ärmeren der Gesellschaft so prominent dokumentiert sehen und der Naturalismus eines Emile Zola war noch weit entfernt. Es sollten noch ein paar Jahre vergehen, bis auch andere Künstler und vor allem die Literatur sich mit den weniger Privilegierten der Gesellschaft befassen würden.

Jean François Millet selber stammte von Großbauern ab und ließ sich 1849 definitiv in Barbizon in der Nähe von Fontainebleau nieder. Die Maxime der Schule von Barbizon, zu der zeitweilig auch Corot oder Rousseau gehörten, war es, vor allem die natürliche Darstellung von ländlichen Motiven und das Malen im Freien zu fördern. Triebkraft sollten aber weder Mitleid noch Verklärung oder Romantik sein, sondern einfach nur die Vermittlung einer anderen Arbeits- und Lebensweise. Millet wurde mit den Ährenleserinnen oder mit dem Angelusläuten, das zwei Jahre später entstand, als Revolutionär in der Kunst abgestempelt. Aber trotz einer erbarmungslosen Ablehnung der Gesellschaft seiner Bilder, wurden gerade diese Werke immer wieder reproduziert und 1867 auf der Pariser Weltausstellung gezeigt.


Wikipedia-Link zum Gemälde mit den Ährenleserinnen


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr

Ausstellungen

Kulturspaziergänge

Museen

Werkbetrachtungen



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:




KUNST Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUSSTELLUNGEN

BIENNALEN | KUNSTMESSEN

INTERVIEWS

KULTURSPAZIERGANG

MUSEEN IM CHECK

PORTRÄTS

WERKBETRACHTUNGEN
von Christa Blenk



Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)