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Kultura-Spezial


Vom Zufall
oder der Schnitt im Fluss


Wege zu den Portraits der Elvira Hufschmid bei 48 Stunden Neukölln 2008

Über das Utopische: Teil 2

Text: Gerald Pirner
Foto: Adel

Ich habe es seit vielen Jahren unzählige Male gesagt und manchmal geschrieben, dass ich nicht meine Musik mache sondern die Schwingungen übertrage, die ich auffange, dass ich wie ein Übersetzer funktioniere, ein Radioapparat bin. Wenn ich richtig, in der richtigen Verfassung komponierte, existierte ich selbst nicht mehr. (Karlheinz Stockhausen)

Glauben Sie mir oder Ihren Augen? (Chico Marx von den Marx-Brothers)


Ein umgekipptes Auto. Ein liegender Mann mit Bart. Aber wie sie denn hereingekommen seien, fragt sie, und ob der Assistent nicht vor der Tür gestanden sei. Da sei eine Liste gewesen auf der ihre Namen allerdings nicht zu finden.

Sich vom Ufer her genähert. Sandiger Weg daneben Kopfsteinpflaster. Ab und an von Autoreifen ledern ins Hörbare gespritzt. Quer vor ihnen ein Geräuschband aus Motorenlärm Schritt um Schritt herangezogen. Zerfällt beim Näherkommen in seine Bestandteile. Als akustischer Zeittakt eine Kreuzung ausgebremst. Mit dem Parallelverkehr drüber. Aber auch der verschwindet auf den Stufen nach unten. Seitlich von vorn gedämpfte Motorreste hinter Brückengeländer. Rückstände gemauerten Verkehrs.

Träge gegen Stein gepatscht und widerwillig wiederholt wie um etwas zu verscheuchen. Angeschwemmtes liegengelassen wo dem Strömen die Kraft fehlt es mitzunehmen. Unter der Hitze das Wasser verdickt – fast zum Stehen gekommen und zerfallend in verschiedene Gerüche. Herbstichiges pflanzlicher Fäulnis. Süßliche Überreste von Organischem. Fäkalienschlamm. Der Kanal als Lache oberflächlich zu Wellen aufgeschäumt. Schwaden von Bootsdiesel darüber. Stimmen ausgelassen und ihre Schritte von Holz auf Stein gekippt. Freundlich eine Frau ob man mitfahren wolle: Pendelverkehr 48 Stunden in der Karte inbegriffen. Ein leichter Windhauch schmiert den Diesel in eine Mauerecke. Dort bleibt er einen Moment bis er im Gestank aus der Bedürfnisanstalt aufgelöst. Öffentliche Toilette Wildenbruchbrücke: steinerner Bunker menschlichen Ausflüssen weg von der Straße. Der Ort als Abort allen möglichen Ausscheidungen. Von Wänden ein- und ausgeatmeter Harngestank. Ablagerung von Ausdünstungen und all dessen was unter ihnen befriedigt. Ausgesperrt der Gestank. Ausgesperrt das vermeintlich Abnormale. „Dieser Ort ist ja auch total aufgeladen von all dem, was da vorher war und was da alles passiert ist. Das war ja nicht nur eine Toilette, das war ja auch eine Klappe. Vor allem der vordere Teil. Die Damentoilette weiß ich jetzt nicht. Aber dass da alles Mögliche vorgegangen ist. So eine Toilette ist halt ein intimer Raum.“*




Mauern außen innen Wände: dem Weggesperrten eine Behausung. Ins Schneidende erhitzter Uringestank der steht inmitten hochgekachelter Wände. Abwaschbarkeit und abweisende Glätte – vom Geruch das Schauen verhöhnt, das nichts von seinen Ursprüngen mehr sieht. Nicht mehr herauszuputzende Spuren dessen was hier geschehen: Spuren die ganz bei sich geblieben, nirgendwo mehr hin. Aus steinernem Gedächtnis das Gelebte ohne Unterlass herausgeschwitzt. Anders als das Hören, das in Klangereignissen den Raum öffnet, ihn ins Unabschließbare treibt, anders freilich auch als das Sehen, das den Raum hinter seinem Bild von Durchquerbarkeit verschwinden lässt, leugnet der Geruch den Raum, den er zur Unentrinnbarkeit seines Gedächtnisses macht, nichts anderes und nicht mehr als seine Ausdehnung. Während bildlos im Tasten unter der Hand immer alles zerbrochen fragmentiert zerfallen und von keinem Ganzen abschließbar, schließt der Geruch den Riechenden in sich ein ohne ihn zum Subjekt des Riechens werden zu lassen. Der Geruch allein will bleiben. Wo das Akustische seine Quelle nur kurz überlebt, dringt der Geruch in die Dinge hinein, um weit über seine Verursachung hinaus zu dauern. Hier aber scheint der Geruch von nirgendwoher zu kommen und wo sich den Fliesen als seiner Grenze genähert, verschwindet er einfach, so als schützten sie ihn schirmten ihn ab. Einzig bestrebt alles zu durchdringen, unreflektiert und ungebrochen allein bei sich. Unentrinnbare Nähe und hilflos die Sprache darin, die sich in Tautologien flüchtet: der Urin riecht wie Urin die Achsel wie Achsel und das Geschlecht wie Geschlecht. Der Geruch lässt sich nicht auf Sprache ein. Im Wort „riechen“ die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht möglich, nicht zu entscheiden was denn da riecht, das Ding oder der Mensch und gerade so als spürte die Sprache dabei auf, dass der Mensch in allem was er riecht immer und zuallererst sich selbst riechen muss. Alles an Gerüchen und Gestank mischt sich in ihn und mischt sich dabei in seinen Geruch und noch bevor es gerochen. Nur in wenigen Worten die ausschließlich dem Geruch gelten ausdrückbar, entziehen sich dessen in einer jeden Bewegung zu erfahrenden Nuancen näherer begrifflicher Bestimmung sodass, sobald von Geruch und Gestank gesprochen meist zugleich auf das Vokabular anderer sensorischer Register zurückgegriffen: als suchte Reflektion über Geruch mittels beglaubigter Texturen der undifferenzierbaren Körperausmischungen Herr zu werden. Das Riechen aber ist so blind wie kein anderer Sinn und viel muss ihm erzählt werden, ohne dass sicher was es davon glaubt. Schattierungen aufnehmend ohne sie festzustellen ist es doch eher ein Wittern durch sie und durch sie hindurch. Von keinem Bild lässt sich der Geruch abspeisen. Wie andererseits das Sehen im Blick die Dinge bedeckt, entkleidet der Geruch das wohinein er eindringt, entzieht Wesen und Ding deren Haut und deren Grenze. Immer schwingt etwas mit was anzugehen oder bereits versäumt, etwas das zuviel oder zuwenig. Begehren erstarrt und gebunden von etwas das rücksichtslos verführt. Blind der Geruch Verheißung oder Versprechen Ekel oder Abscheu oder Abstoßung. Alles Gegenständliche entblößt von etwas das einfach nur noch passiert.




Herausgerissen die Kammern, die Kabuffs, die Becken. Rohrstümpfe aus den Wänden wie verödete Adern: Bändigung eines unberechenbaren Tieres mittels Amputation seiner pulsierenden Organe. Ein Raum wie ein ausgeschabter Körper. Haut allein noch und im Geruch seiner Erinnerung nachdämmernd. Zonen von Ausdünstungen von Harnstoff überzogen. Befallen davon die die hereintreten als suchte der Geruch nach seinem Ursprung: Säfte Flüssiges Schleimiges ansprechend, durchdringend das Lebendige das er zu sich zieht weil es immer schon sein Eigen. Ekel als Wissen unaussprechliches Wissen aber weit über Ekel hinaus gespürt. Leibhaftiges Wissen diesseits aller Bezeichnung. Sprach-Vorgabe. Trennte der aufrechte Gang des Menschen Mund und Nase von Geschlecht und After - die Geruchszonen von Sexualität und Ausscheidung ins Niedere verbannend - so begann mit dieser „Vertikalisierung“ nach Freud die eigentliche Menschwerdung des Tieres, verbunden mit Ächtung Verdrängung und Diffamierung des Geruchs. Erst in solcher Distanz von Betrachtung und Bezeichnung ermöglichte der Prozess der Zivilisation die Subjektwerdung.
Eine Pappdecke schräg zum Boden in die Knie zwingend hinunter ins Kriechen ins Vierbeinige. Holzig staubiger Geruch erdiger Ausschnitt aus dem olfaktorisch Flüssigen, seinen Ausdünstungen riechbarer Boden. Caroline Armands Schachtellabyrinth, Installation als körperlich erzwungene Regression. Unter Kartonwänden gebeugt schmale Gänge aus Schachteln in Sackgassen führend. Holzleisten auf Wänden nach, hinunter in Geschlechtshöhe. Schachteln unverschlossen aufgeklappte Öffnungen aneinander übereinander leere Räume schmale Spalten blinde Löcher tote Winkel ausgefranst und abgerissen an ihren Kanten … Der Weg zurück sinnlos. Sich verlaufend in Räumen und Objekten. Triebverstiegenheit ankommen zu wollen. Zurückgezogen der Geruch der Anstalt dem Holzpappgestell einen Raum überlassend in den er noch nicht eingemischt, den er neugierig umstreift in den er nach und nach und immer mehr hineinriecht.




Die Blinde und die Zeichnung des Blinden
Tags darauf seine Behausung wie nach Außen gestülpt. Im Luftzug er zurück in die Wände getrieben. Der aber lässt nicht nach weht über sie als wolle er ihn aufstöbern. Die Türe hinten sei heute geschlossen sagt Sie. Blechern bezogen bei Klopfen hohl. In Augenhöhe ein Belüftungsgitter und auch da hindurch zieht es als wären die Bunkerwände aufgebrochen. Das Ganze wirke wie ein Beichtstuhl sagt Sie. Zwei Frauen seien hinter dem Gitter zu sehen, auf Stühlen sitzend einander zugewandt. Die eine mit verbundenen Augen einen Block auf dem Schoß zeichne oder schreibe, die andere aufrechte Haltung Kopf gerade nach vorn als traute sie der Binde nicht, fühlte durch sie sich erst recht beschaut. Das Ohr am Gitter. Leise unregelmäßiges Streifen. „Und ich saß dann so und hörte wie jemand die ganze Situation beschreibt und ich dachte wieso beschreibt die, was ich hier mache, bis ich erkannte, dass da jemand einem anderen der nicht sehen kann beschreibt was da passiert.“

Sie führt ihn hinein. Von Öffnungen her in Stimmen der Raum eingeschalt. Der verläuft ohne Ort bis er sie hört bis er hört dass sie spricht und hört dass sie nicht in seine Richtung spricht, dass sie in Richtung eines Platzes spricht von dem er gehört und der jetzt leer sein muss. Sie werde ein Portrait von ihm anfertigen sagt sie und er solle doch bitte nicht sprechen.

Von einer papierenen Fläche die Gesten der Hand hörbar gemacht. Hingeworfen sie. Auf Schoßhöhe verstreut. Unterscheidbare Geschwindigkeiten Verlangsamungen Beschleunigungen. Die gleiche Bewegung mehrmals bis hinter Geraschel sie unhörbar und verschwunden. In Wellen Herausgedrehtes schneller lauter in Rundungen auslaufend. Ruckartig scharfe Schnitte unterbrochen und wiederholt – ein feiner harter Punkt in jedem Strich, von dem der rutschende Handballen durchtrennt. Stolpern stottern innegehalten als werde betrachtet was getan. Blind - keine Linie die sich am Auge ausrichtete sich vervielfachte um in anderen Linien nochmals zu sich in Beziehung zu treten, sich zu betrachten und betrachtet zu werden aus dem was aus ihr sich entfaltet. Keine Fortführung aus äußeren Spuren der Körperbewegung, die nur im Körpergedächtnis geblieben und das spricht mit sich selbst in der Hand, Immaterielles in Material abstreifend. Bruchstücke von Geschautem in Gesehenem ungesehen. Von Bewegung durchzogener Körper manchmal durchzuckt. Etwas Flüchtigem Halt in der Zeit. Metallisches weiter oben kurz hell und nicht ausschwingend. Auf flachem kurzen feuchten Schimmer gedämpft ohne in etwas zu versinken. Keine Ohrringe also, die klängen nach, unterbrächen im Eigenton ihr Ausschwingen im Anstoß. Auch nicht aber auf Textil gefallen, das bettete den Klang, stieße ihn nicht ab. Haut glatte Haut nackte Abweisung. In flüchtigen Hörspuren der Körper gegen Getanes. Gedankenreste eingefleischter Bilder. Hand und Hals im Gespräch. Unwillig gezuckt wo ihre Zeichnungen seinen Innengravuren widerstehen. Geräusche unbedeutbar. Spannungen aus geschautem Diktat. Wie automatisch von sich gegeben dem erneuten Niederschlag im Fleisch nachspürend, nachspürend seiner Ver-Zeichnung. „Es ist ein Strom, ein Bildstrom. So vieles, das ist gar nicht zu fassen und dann fällt immer wieder etwas Bruchstückhaftes ab, etwas das im Moment herausfällt. […] Es kommt immer darauf an, ob ich die Aufmerksamkeit auf die Person richten kann um Bilder sozusagen von der Person abzurufen. Dann kommen die Bilder tatsächlich von der Person, wie meine These ja ist. Wenn ich dann mit den Gedanken abschweife, schweifen auch die Bilder ab, kommen dann eher meine Bilder, das sind dann eher meine Bilder als die Bilder von der Person.“



Geschwindigkeit was sie ausmache sagt sie
nichts haltbar
ein Fließen
Bilder die sie durchaus sehe
verlaufen wie sie es beschreibe denkt er
denkt sie blind
oder sie mit verbundenen Augen
was verläuft
ohne Frage sich verlaufen
genauer der Stand
wo keiner mehr im Übersturz einbrechender Bilder
Geräusche Gerüche aus Zusammenhängen gerissen
rahmenlose Wahrnehmung
nicht eingrenzbarer Verfluss den ungesehen nichts hält
der durch alles Gehörte Gerochene Getastete strömt
es verflüssigt
Vor-Sprache Begriffseinsturz
und noch Hand nur gefluteter Taumel:
zu genießen wenn er nicht an einer Kreuzung stünde Parallel- und Querverkehr ununterscheidbar und der nächste Moment das was zustößt …

Etwas zeigt sich oder breche heraus wie sie sagt, vielleicht auch nur sagen würde. Etwas zeigt sich und unterbricht den Fluss. Verdrängt lässt hinter sich. Etwas zeigt sich und worin es sich zeigt zeigt es auch, dass es schon da war ohne dass sich darin allerdings Bedeutung zeigte. Bilder. Gegenstände. Bilder von Gegenständen. Kontextlos sie auf- und nebeneinander. Striche Linien Kreise. Zeigen erscheinen sehen in eins. Etwas zeigt sich lange genug um an seinen Konturen aufgenommen zu werden. Etwas unterbricht das Dauern in Zeit und die spannt es aus zu ihrer Länge. Außenloses Innen von Außen. Äußerung ohne Ursprung. Was sie sieht vom Anderen. Hält inne. Innehalten um Bewegung zu werden. Deren Spuren das Bild. Sonst nichts.



Die Hand vom Auge getrennt. Kein Bruch ihres Tuns in versicherter Form. Spiegelt sich sonst der Strich eitel im Blick Möglichkeiten und Entfaltung zu, folgt Hand ihm jetzt wie in Trance und er selbst nichts als Medium des Vor-Gesehenen. Was den Fluss unterbricht läuft aus, friert Bewegung ein im Bild und das was da erscheint zeigt sich zugleich im Begriff. Entsprechung von Wort und Geschautem: ein umgekipptes Auto etwa oder dass da ein Mann liege und das dort vielleicht sein Geschlecht.

Vorab Meditationsübungen wie sie sagt, um sich zum Anderen hin zu öffnen. Von Bildern geflutet in nicht innehaltendem Fluss erbricht dessen gesichtsloses Bild das dauernde Strömen ihres Körpers, versetzt ihn in eine Bewegung deren zeichnerischer Niederschlag gleichsam Metapher menschlicher Äußerung. Elvira Hufschmids Portraits eines Gegenüber bedienen sich nicht allein ihres Körpers um in Gestalt zu sich zu kommen: Beginn der Möglichkeit von Sprechen stellen sie dar, eröffnete Reflektion eines Selbst erspürt vom Anderen her, von dem es in Schrift und Zeichnung sogleich auch unwiederbringlich getrennt.

Ein Geräusch als ob etwas zerreißt. Sie gibt ihm ein Stück dünnen Kartons. Nachlässig herausgerissen. Zerfranst am Rand. Ein umgekipptes Auto ein liegender Mann mit Bart sagt sie, und auf der Rückseite sei das auch in Worten geschrieben. Was Sie ihm später vorliest ist das gleiche und Sie liest ihm vor was auf der Rückseite steht, und was auf der Vorderseite gezeichnet beschreibt Sie: Entsprechung von Wort und Bild.

Ihr Körper, Bild des Anderen in Bewegungen zwischen Hals und Hand ausgetanzt. Rhythmische Schleifen durch Haut und Metall. Aufzeichnung des Gegebenen um es wieder loszuwerden. Das aber freilich hört er nur. Nichts davon nehmen die Kameras auf. Die eine auf die zeichnende Hand gerichtet, auf das Gesicht des Portraitierten die andere. Reduktion von Berührung Körper und Gespür auf die tätige Hand, erkennbar identitätsversichernd das Gesicht des Gegenüber. Wo hauptsächlich Wert auf eine Botschaft gelegt, erhalten sie im rückseitigen Begriff, legt der aus dem Dickicht von Verzeichnetem frei, was gesehen werden soll und was übergangen. Es schließt sich aber so die Öffnung hin zum Gespür des Anderen, verblassend die gleichnishaften Gesten von Zeichen- und Sprachwerdung als dessen Geschenk.



Das Kleid und die Blende
Dass sie ein Portrait anfertige.
Nur ein Satz. Ein Satz der Raum Gespür und Körper verändert. Neu zusammensetzt. Weniger Erwartung entfacht. Eher ausgerichtet und unterworfen und das von einem Moment auf den anderen. Ein Satz wie ein Befehl. Dass die, die Sie ihr gegenüber gesehen alle aufrecht gesessen, sagt Sie und sein blindes Bild sieht diese ihre Gesichter vor sich tragend wie beschaut.

Sie werde ein Portrait anfertigen hatte sie gesagt.
Ihrem Gegenüber mit verbundenen Augen zugewandt und dies Gegenüber schaut zurück in etwas, das es nicht sieht und nicht allein weil eine Kamera auf es gerichtet.

Schwingend zwischen Visuellem und Vision zwischen Imago und Imagination zeichnet eine Hand Geschautes ohne dass ein Blick sie überwachte oder sie in ihm korrigiert. Unter einer Binde verborgen sieht keiner mehr was der Blick sieht und so könnte das noch viel mehr sein als was sonst ihm anzusehen. Unabgewendeten Blickes portraitiert, dass nichts der Hand entgehe, nichts ihrem automatischen Ausfluss. Die Nacktheit des Antlitzes verscheucht in der Oberfläche eines eingefleischten Gesichts, das zu spüren hofft was es bedeutet, und hofft dass das erkannt. Vom Satz, dass man portraitiert werde die Empfindung eingestellt, lässt diese den zusammenhanglos gesehenen Dingen der Zeichnung freien Lauf und ihre geschriebenen Begriffe - in keiner Bedeutung entladen - durchwühlen den Körper der Portraitierten nach einer Erzählung. Kein Bild aber ist da und verstrickt das Fleisch in alle. Bildreste, aufgerufen von Zeichnung und Wort und in solchen vorher niemals gesehen, lassen sich ein in Gestalt eine zeitlang bleibend.

Ob Sie ihm beschrieben habe wie sie ausgesehen, sollte sie später fragen. Danach erst, hatte er geantwortet. Ein schwarzes Kleid und eine schwarze Binde vor den Augen. Selber Stoff und selbe Farbe, worin sehen verhindert und zugleich alles gezeigt was zu sehen. Ein weit ausgeschnittenes Kleid habe sie getragen, sagt sie und sagt, dass sie sich dabei den Blicken ausgeliefert habe, die auch ihrem Körper gegolten. Auslieferung ihres Körpers die Stimme einer Frau und der blinde Hörer sucht aus ihrem ruhigen Atem ein Bild zu imaginieren, das einstürzenden Bildern Einhalt gebiete. Kein anderer Halt aber denn ihre Stimme und die hält nicht was passiert. „So eine Toilette ist halt ein intimer Raum. Ich habe mir das noch einmal einen Tag überlegt ob ich das wirklich darin mache, weil ich mich nicht geschützt gefühlt habe. Es ist ein privater Raum, der öffentlich ist. Mich hat das Private und das Öffentliche interessiert, das heißt wildfremde Leute, die ich nicht kenne, in einer sehr intimen Situation mit mir. Und ich hatte auch ein Kleid an mit einem tiefen Ausschnitt, das heißt dass die Blicke die auf mir ruhen auch meinen Körper betreffen, das heißt ich setze mich dem auch aus und im Gegenteil ich spiele auch damit, mit diesen Blicken. Ich wusste aber nicht ob ich das alles ertragen kann, weil ich ja keine Kontrolle habe, vor allem wenn man nichts sieht […] dann ist man natürlich völlig ausgeliefert.“ Motorenlärm. Scheppernd etwas über Gehwegplatten gezogen. Ihre Stimme verschwimmt darin. Nur Wortfetzen. Dann hört sie auf zu sprechen oder er hört sie nicht mehr sprechen. Hört nur noch den Lkw und wartet. Ein Lkw, sagt sie. Sie leeren die Tonnen.



Ein Wort den Blick ins Sehen verstrickt und angesprochen bis er wieder blind wird. Geräuschabhub von Gesten auf Papier ausgespannt von zugesprochenen Anordnungen. Wort wie Kleid oder Körper eigenschaftslos dazwischen, wörtlich geschieden in schwarz. Kopfloses Gesicht von einer Stimme geöffnet, die nicht weit hineinlässt in den Mund. Gaumen Rachen und Zähne eng an der Zunge gehalten, dass der Atem in ihr aufgeht und im Ton. Den Körper vor ihre Hand gestellt und in der Haltung dem widersprochen was sie tut.
Sie zeigte sich
oder habe sich gezeigt wie sie sagt blind wie sie sagt
wie sie spricht und dem Blinden dem sich das nicht gezeigt
dem sie wörtlich aufzeigt
was an ihrem Sprechen nicht aufzeigbar
was allem Zeigen widerspricht
alles Zeigen zerbricht
das gezeigt in vermeintlich sprachlichem Doppel
zerstört
überformt
in nicht-enden-könnenden Überwucherungen
und der Satz nur ein Behelf und von seinem Ende her Schnitt

Mit ihrem Körper entzieht sich Elvira Hufschmid ihrer Anwesenheit, schiebt ihn vor das, was mit ihr geschieht, was sie zeichnen lässt, was sich ihrer bedient. Scheinbar ungeschützt wird angedeutete Körperblöße zum Schutz für Verletzlicheres, birgt sich die Offenheit zum Gegenüber hinter ihr. Ganz wörtlich Blick-Fang hält der Körper die Schärfe des Sehens an sich und die eigentliche Öffnung von Verletzungen fern. Die Augenbinde wirkt so nicht allein als Abdichtung der Zeichnerin gegen das optische Außen und seine Ablenkungen. Ablenkung ist sie vielmehr selbst, lässt überhaupt erst den Blick auf den Körper zu, den die Augen der Frau nicht mehr von ihm abhalten, den sie in gewisser Weise freigeben um dahinter in einer ganz anders gearteten Nacktheit aufzunehmen und ungesehen zu empfangen.

Die Stahltür zur Frauentoilette geschlossen. Zwei Monitore davor im Kanalgestank. Die zeigen auf was drinnen aufgezeichnet. Stillgehaltenes Gesicht was Sie sieht und dass das schaut wie gesehen. Auf dem anderen Bildschirm die Hand: Zeichnende und portraitiertes Gegenüber in Echtzeitmitschnitt vereint und doch getrennt und abgetrennt vom Körper was zu sehen im Bild. Gemeinsamer Innenraum ins Oberflächenaußen öffentlicher Übertragung. Neutralisierung gespürter Erfahrung in Sehen und Sicht. Schauen ausgeblendet. Maschinell gestifteter Zusammenhang von Gesicht und Hand. Das Eigene und das Andere eins geworden und austauschbar seine Verkörperungen. Wo vom Anderen im Schauen etwas aufgespürt, dem der Körper sich geöffnet, wo in Bewegung etwas Gestalt gewinnt, das als Zeichnung sowohl das Eigene das Andere wie auch den unüberwindbaren Riss zwischen beiden trägt - von keinem Äquivalent abgeltbar, Öffnung zum Anderen als Gabe - gleicht die Übertragung Eigenes und Fremdes einander an, reproduziert als austauschbares Doppel, allen Bruch alle Differenz nivellierend und den Ursprung als Abbildbarkeit leugnend, ihn ausklammernd weil er nie gegeben und erst recht nicht in Vermittlung. Ironisch wird dem künstlerischen Prozess maschinell ein Portrait beigestellt, bildlich dokumentierend, dass im eigentlichen Sinne hier nicht portraitiert und dabei zugleich die Frage aufgeworfen, was denn ein solches Portrait sei, wo sein Ort und was alles sein Bild: von Körperbewegung aufgezeichnete Schau ungesehener Bilder des Anderen; imaginierter Blick auf das eigene Gesicht das seinem inneren Bild nach sich in den hineinhält; Reproduktion eines Bildes als Angleichung von Innen und Außen, den die fotografische Dokumentation der Portraitierten der Zeichnungen und des Geschriebenen noch beigefügt, vorgenommen das alles vor den Monitoren, dass alles erkannt und nichts vertauschbar und alles übersehen. Leicht ironisiert aber auch die eigene Arbeit der Elvira Hufschmid, die sie aber auch mit äußerstem Ernst angeht, nicht zuletzt in Verweisen auf deren Nähe zur Technik des Rutengehens. Vielleicht aber in der Kamera auch nur die Spuren verwischt, Fährten gelegt hinter denen Verletzlicheres versteckt.

Leicht irritiert und zugleich ausgelassen als wäre etwas überstanden tauschen Gezeichnete vor den Monitoren sich über ihre Bilder aus, Gegenstände suchend die rückseitig ausgeschrieben und immer dabei ein Eigenes entdeckt.



Der Ausfall des Ereignisses
In Weekend von Jean Luc Godard fährt die Kamera zehn Minuten an einem Autostau auf der Landstrasse vorbei, verursacht dieser von Unfällen deren Tote so unbeachtet wie die ausgebrannten Autowracks am Straßenrand liegen. Erst in der fahrenden Bewegung des Maschinenauges wird der in Gänze zum Erliegen gekommene Verkehrsfluss sichtbar, dabei aber erneut Bewegung werdend und darin gefasst, was an Bewegung aus dem Stillstand hervorquillt. Von Auto zu Auto Schach oder Ball gespielt diskutiert geschlafen gestritten gegessen getobt: Stillstand als Schnitt in einen Fluss, aus dem Leben erneut und ganz anders hervorströmt. Stillstand als Unfassbarkeit und von Bewegung mitgerissen sobald versucht ihn zu fassen. Umgekehrt aber das Bild als notwendiger Rahmen, der Zeit ermöglicht aus ihrer Dauer heraus sich in Ding und Wesen zu verwirklichen. Elvira Hufschmids Video Highway Poem scheint das filmische Bild um Stillstand und Bewegung nach Innen zu stülpen, indem der feste Stand der Kamera in der Projektion ein Außen-Off als Ort des katastrophalen Ereignisses schafft, dem alles was im Bild an Bewegung sich zeigt widerspricht. Blick von oben auf zwei Autobahnspuren von denen eine unentwegt befahren. Auf der anderen eine Frau von Off zu Off joggend gefolgt vom Autofluss, dem sie der Bildlogik nach im Off zum Opfer fallen muss. Sie aber kehrt wieder und erneut gefolgt von den Autos und in anderer Richtung und endlos dies Hin und Her wiederholt. Im gegenwärtigen Bild aller Ursprung alles Außen ja alles Ereignis verloren, gerinnt Bewegung in ihm zum Stillstand, weil sich außerhalb seiner nichts mehr zu ereignen vermag. Das Bild - im Rahmen überhaupt erst zu sich kommend - verliert, wo alle Grenze zum Unsichtbaren sinnlos weil ohne Wirkung, seine Zeit, und das was da fließt wird Dauer, die nicht einmal mehr im Begriff des Gegenwärtigen fassbar.

In den blinden Portraits dem Portrait des Blinden entgleitet der Bildrahmen dem Format, wo gezeichnete Gegenstände und ihr verschriftlichter Begriff in keiner eigentlichen Position zueinander in Beziehung oder Verhältnis gesetzt. Wie zufällig in solche geraten und ohne dass darin irgendwelche Bedeutung zu sehen, treiben sie haltlos nach Außen, anredend fragend als überspränge das Sichtbare sich selbst hinein in etwas das nur noch zu hören. Gesehenes, das Schauen verweigernd – Bild darin eine Schwelle. Berührung Öffnung und Übergang von Körper in Bewegung und Zeichen, vom Intimen ins Öffentliche, vom Innen ins Außen, vom Geben ins Gegebene, vom Gelebten ins Gedachte ins Erhoffte, vom Wirklichen in den Trug und ins Phantasma, und all diese Richtungen im Bild zugleich umkehrbar und überhaupt zugleich.

Wird mit Walter Benjamin Gegenständen und Bild ein Blick zugesprochen so scheint das Gezeichnete von Elvira Hufschmid diesen verloren. Blind sind diese Gegenstände wie Geräusche deren Eigenschaften aufhörten etwas Wesenhaftes zu verraten. Murmelnd tasten sie ins Leere und womit sie in Berührung gekommen dem sprechen sie die Hoheitsrechte über Erlebtes ab, das Gedächtnis mit ihrer Kontextlosigkeit infizierend. Ein umgekipptes Auto. Ein liegender Mann mit Bart. „Ich habe an diesem Tag viele Maschinenteile gesehen. Maschinenteile, Maschinen und Autos.“ Als beendete die Zeichnung des Blinden den Stillstand in Bewegung wie er im Highway Poem zu sehen. Bewegungsorgane vom Boden gelöst. Kein fort mehr kein Weg kein weg. Vielleicht aber ist das Portrait des Blinden auch als ganz körperliche Analogie zum Highway Poem zu verstehen: Geschieht auf beiden denn nicht das Selbe. Ist tatsächlich Unterschiedliches dargestellt.

„Es gab eine Liste in die Sie sich vorher hätten eintragen müssen“
„Wir wussten nichts von einer Liste.“
„Aber stand Dirk nicht vor der Tür? Er sollte die Leute hereinführen, sollte ihnen sagen, dass sie nicht mit mir sprechen sollen.“
„Es stand niemand vor der Tür.“
„Ich war auf Sie nicht vorbereitet.“
„Wir auf Sie auch nicht. Auch wir hatten nicht mit Ihnen gerechnet.“

Ein kleiner eiserner Knauf. Klappriegel eingelassene Stahlöse und Schloss. Spinnweben überall. Eine blechüberzogene Holztüre und er schlägt mit dem Stock dagegen. Tief hinein in den Raum schnellt der Schall verliert sich gebrochen. Vergitterte Belüftungsgitter über der Tür. Eine kleine Erhebung darunter vom Stock ertastet. Die Blechschilder die die Geschlechter verteilten jetzt abmontiert. Nur noch die Mauer zwischen den Türen, die sie auseinander hielt. Zwischen den Wänden der Autolärm ins Unwirkliche verschwimmend. Hoch und zurück zur Kreuzung. Einige Schwaden von Uringestank auch noch dort. Dann Autos. Nur noch Autos.





Gerald Pirner - red / 11. September 2008
ID 3990
* Die Zitate entstammen einem Gespräch, das der Autor mit Elvira Hufschmid im Juli 2008 führte.

http://www.elvira-hufschmid.de/

Weitere Infos siehe auch: http://www.kunstraumt27.de/toiletten27.html





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