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Ausstellung

„Mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest.“

PAULA MODERSOHN-BECKER in Paris


Bewertung:    



Paula Becker (1886-2007) kam Silvester 1899, 23jährig, in Paris an. Der Beginn des neuen Jahrtausends sollte auch für sie der Beginn einer kurzen, aber sehr intensiven und freien Schaffensperiode werden. Weitere drei längere Aufenthalte zwischen 1900 und 1906 sollten folgen. Umgeben vom Geist der sich ankündigenden Moderne, vom in der Luft liegenden Kubismus, vom persönlichen Bilderbad und vom Flair der Freiheit der damaligen Kunst- und Kulturmetropole entstanden ihre starken Bilder, über 700 an der Zahl, die mit der akademischen Malerei komplett abgeschlossen hatten. Ja, man fragt sich sogar, ob sie sich überhaupt jemals mit dem Studium des Akademischen befasst hatte. Wenn man ihre Zeichnungen betrachtet, ist davon nichts zu erkennen. Ihre Modelle sind holprig, eckig, kugelrund, unförmig, und ihre Körper gleichen manchmal knochenlosen, nackten und unerotischen Flächen. PMB (so signierte sie viele ihrer Bilder) malte keine Mütter, keine Madonnen, keine Kurtisanen, sie malte Frauen, vor allem sich selber, immer wieder und immer wieder anders. Kritisch, anklagend, gnadenlos. Paula Modersohn-Becker hat als erste Frau ein nacktes Autoportrait gemalt.

Sie ist in Frankreich so gut wie unbekannt. Das wird sich nun ändern!

*

Seit dem 8. April ist im Pariser Museum für Moderne Kunst diese bedeutende Worpsweder Künstlerin ausgestellt. Die ausgezeichnete Schau [Paula Modersohn-Becker. L´intensité d´un regard] mit über 120 Bildern und Zeichnungen dokumentiert acht oder neun sehr intensive Jahre auf einem (vorzeitigen und rasenden) Weg in die Moderne. Die Briefe aus Paris an die Familie, an Ottos Eltern oder an ihren Mann Otto Modersohn, sind eine einzige Liebeserklärung an Paris.

Die Schau zeigt einige wichtige Frühwerke aus Paulas Worpsweder Zeit. Gruselige Portraits, entstanden in den Armenvierteln im kalten Norden, verhärmte, stillende Frauen, Kinderportraits und wunderbare Landschaften, darunter die Kirche von Worpswede. Portraits und Selbstportraits, immer wieder Mutter-und-Kind-Szenen. Während ihres dritten Aufenthaltes hat sie sich immer mehr mit dem Stillleben befasst, Chardin und Cezanne entdeckt und Matisses rote Fische kopiert. In der Akademie Colarossi nahm sie Unterricht in der Aktmalerei, worauf ihre Portraits noch aggressiver und strafender wurden. Durch Clara Westhoff, die sie schon aus Worpswede kannte und die eine Schülerin von Rodin in Paris war, lernte sie die Arbeiten von Cezanne kennen. Es war auch Clara, die sie in den Louvre mitnahm und die ihr den Bildhauer Rodin vorstellte. Von dessen Freiheit und forscher künstlerischer Frechheit Paula fasziniert war, die Unabhängigkeit und Persönlichkeit von Rodins Zeichnungen beeinflusste und prägte sie enorm.

Die Hälfte von PMBs Bilder sind Selbstbildnisse, auf denen sie nicht immer zu erkennen ist, kritische Blicke auf sich selber. Die krude Nacktheit schmückt sie mit einem Apfel oder einer Blume oder mit Schmuck, ähnlich den oberägyptischen Mumienportraits, die sie im Louvre entdeckte. Das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag ist 1906 entstanden und ist erschütternd. Ihr Oberkörper, abgesehen von einer Bernsteinkette im selben Ton ihrer zurück gekämmten Haare, ist nackt. Mit beiden Armen rahmt sie ihren schwangeren Bauch ein, darunter hat sie ein helles Tuch drapiert. Sie blickt uns an – oder betrachtet sie sich selber im Spiegel? – provozierend, mutig mit einem leichten Schmunzeln. Will sie uns etwas vormachen? Paula hat dieses Bild in Paris gemalt und war zu diesem Zeitpunkt nicht schwanger. Sie war vielmehr auf ihrer vierten Flucht vor Worpswede, vor den ehelichen Pflichten und vor dem Kalbsbraten.



Paula Modersohn-Becker (1876-1907) Autoportrait au sixième anniversaire de mariage, 15 mai 1906, détrempe sur planche de contreplaqué, 101,8 x 70,2 cm | Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum, Brême © Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Brême


Hin- und hergerissen zwischen der Freiheit in Paris und Worpswede mit der Aufgabe, sich um Otto und um Elsbeth, dessen Tochter aus erster Ehe, zu kümmern, reist sie wieder nach Paris und schreibt ihm begeisterte Briefe. Immer wieder ist sie umgezogen; und nachdem ihre kleine Erbschaft verbraucht war, plagten sie auch Geldsorgen - Essen war teuer in Paris und die Portionen klein, schrieb sie einmal ihren Eltern.

An Art Brut erinnernde Formen und Motive vermischt sie mit Gauguins rebellischen Nabis und Haiti-Impressionen; und ihre freimütige, fast plumpe Art sich an die Darstellung eines Körper zu machen, lassen diese Werke oberflächlich betrachtet simpel erscheinen, wie von Kinderhand gemalt. Paulas Arbeit war ein Work in progress. 1899 schrieb sie: "Denn ich will aus mir machen das Feinste, was sich überhaupt machen lässt.“

Lange Jahre ließ die Anerkennung auf sich warten. Die Nazis werden ihre Kunst in die Kategorie „entartet“ einstufen, und auch später freundete man sich nicht so richtig mit den hässlichen und so unästhetischen Repräsentationen ihres ganz persönlichen Realismus an. Schön ist relativ und subjektiv. Sie hatte nicht das Bedürfnis sich begehrenswert zu präsentieren. Intensive oder in sich gekehrte Kinderblicke in die Ferne, ins Leere oder primitive Südsee-Nacktheit, weit weg von westlichen Schönheitsidealen: es ist, was es ist und noch viel mehr!

Rilke, mit dem sie in Paris sehr eng befreundet war, porträtierte sie als Philosophen. Bart, Haare und Hintergrund sind grau-grünlich. Die Farbe der Lippen spiegelt sich in den Augenringen wider. Der weiße Kragen auf der schwarzen Jacke gibt ihm etwas Religiös-Meisterhaftes. Daneben ein sehr schönes Portrait von Clara Westhoff, die er nach Paulas Hochzeit mit Otto Modersohn überstürzt heiratete. Nach dem zweiten Parisaufenthalt wurde ihr Kinderwunsch größer, und Rilke kaufte das Bild Säugling mit der Hand der Mutter, was ihm die Bemerkung "Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins" entlockte.

Der kräftige, mutige und intensive Pinselstrich, ein neues Körper- und Naturverständnis, das sie in Worpswede aber auch in Barbizon entdeckte, großer vorausdenkender Mut rückten sie weit ab von den Vertretern der akademischen Kunst. Ihre Mitstreiterinnen in der Kunstakademie fragten sich, ob Paulas Interpretation von Gegenständen oder Personen wirklich ihrem Empfinden entspräche oder woher diese Art zu Malen käme. „Von meinem Mann“, war ihre Antwort, was natürlich nicht der Wahrheit entsprach. Das wusste Otto Modersohn und respektierte sie dafür umso mehr. In einem Tagebucheintrag von 1902 schrieb er: „Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle wie ich lerne an ihr und mit ihr. Unser Verhältnis ist zu schön, schöner als ich je gedacht, ich bin wahrhaft glücklich, sie ist eine echte Künstlerin, wie es wenige gibt in der Welt, sie hat etwas ganz Seltenes. […] Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden.“

Paula Modersohn-Becker war eine Vorreiterin der Expressionisten und der Moderne. Die früheren Landschaften aus 1898 lassen kurz an Munch denken oder später an die Bilder, die Nolde nach seinem Südseeaufenthalt malte. Sie war der Kunstwelt voraus und wurde dementsprechend schlecht von der Kritik aufgenommen. Unförmige Füße, Hände wie Bratpfannen, unbeholfene, schlecht proportionierte oder unförmige Körper und ein beeindruckender expressionistischer Umgang mit Farben (halb Aquarell, halb Öl). Die subjektive und konventionslose Sorglosigkeit der Gruppe der Neuen Wilden oder die der Transavantgarde, die in den 1980er Jahren – allen voran Baselitz - stilwidrig, farbbetont und obsessiv malte, ist eine Hommage an ihren Stil.



Paula Modersohn-Becker (1876-1907), Jeune fille au poids d’horloge, 1900, détrempe sur carton, 73,4 x 51,5 cm | Staatsgalerie, Stuttgart © Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Brême


Kantige Gesichter lassen den Kubismus erahnen. Hat sie in Paris auch die afrikanischen Masken gesehen, die Picasso - der ebenfalls 1900 anlässlich der Weltausstellung zum ersten Mal nach Paris kam - 1907 zu einem der Wendepunkte der westlichen Kunstgeschichte (Les Demoiselles d’Avignon) inspirierte? Ein weiteres Frühwerk aus 1899, das noch vor ihrem ersten Parisaufenthalt, in Worpswede entstand, Nacktes junges Mädchen im Profil von links mit verschränkten Armen, insinuiert Picassos Rosa Periode. Ob sie den jungen revolutionären Spanier jemals getroffen hat, ist nicht dokumentiert, gesehen hat sie seine Bilder sicherlich, obwohl Paula nicht wie die Kunst-Bohemien auf dem Montmatre / Bateau Lavoir sondern immer in der Nähe von Montparnasse wohnte, wo es Picasso und seine Kollegen erst ein paar Jahre später hinzog.

„Es ist gut, sich aus Verhältnissen zu lösen, die einem die Luft nehmen.“

Während ihres vierten Paris-Aufenthaltes trennte sie sich von Otto, musste dann aber aus finanziellen Gründen wieder zu ihm zurück, wurde schließlich schwanger und starb drei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde an einer Embolie. Ihr letztes Wort war „Schade“!

Christa Blenk - 26. April 2016
ID 9276
Wichtige Ausstellungen ihrer Werke zu Lebzeiten haben nicht stattgefunden. Abgesehen von ihrem Mann schätzte und respektierte Rilke ihre Arbeiten. Der Bildhauer Bernhard Hoetger, den sie ihn Paris kennenlernte, war sehr begeistert von ihrer Malerei und hatte sich nach Paulas Tod um die Verbreitung und Bewahrung ihrer Werke gekümmert.

Ein Großteil der Exponate kommt aus Bremen, aus den Museen im Ruhrgebiet oder aus Privatsammlungen.

Die kommissarische Leiterin dieser wunderbaren Ausstellung ist Julia Garimorth, die zusammen mit der Biografin von Paula Moderbohn-Becker, Marie Darrieussecq, die Ausstellung kuratiert, die noch bis 21. August im Musée d'Art Moderne in Paris zu sehen ist.

Im Anschluss der Ausstellung ist ein wunderbarer Film über ihre vier Aufenthalte in Paris und über ihr Leben zu sehen.


Weitere Infos siehe auch: http://www.mam.paris.fr/fr/expositions/exposition-paula-modersohn-becker


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr



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