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Ausstellung

Günter Brus. Störungszonen

Eine Retrospektive des österreichischen Aktionskünstlers im Berliner Martin-Gropius-Bau


Günter Brus: Ich treibe nur in Störungszonen, 1985 | © Sammlung Helmut Zambo Badenweiler/Wien; Fotograf: Samir Novotny

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Er ist mit Sicherheit der bekannteste unter den Wiener Aktionisten, aber auch mit Berlin verbindet den österreichischen Künstler Günter Brus Einiges. Der als „Uni-Ferkel“ von Wien Verschriene flüchtete 1969 in den Westteil der Stadt und rührte nun nicht mehr nur in den eigenen Exkrementen, sondern die Schastrommel, das künstlerische Zentralorgan der „Österreichischen Exilregierung“, die bei Oswald Wiener (dem Vater der wohl bekanntesten Wiener Köchin in Berlin) in ihrem Leib- und Magen-Lokal Exil nicht nur Wiener Schnitzel servierten. Nun haben die Berliner Festspiele Günter Brus im Martin Gropius Bau die erste große Einzelausstellung in Deutschland ausgerichtet.

Auf dem Höhepunkte der österreichischen Studentenbewegung 1968 hatte eine Gruppe von Künstlern um Gunter Brus, Otto Mühl und Oswald Wiener bei der Aktion „Kunst und Revolution“, während sie die Bundeshymne absangen, auf eine ausgebreitete österreichische Nationalflagge uriniert und masturbiert. Das hatte für Brus wegen „Herabwürdigung der österreichischen Staatsymbole“ und „Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit“ sechs Monate verschärften Arrest zur Folge, von denen er zwei absitzen musste, bevor ihm die Flucht mit Frau und Kind nach Deutschland gelang.

Heute ist der in der Steiermark geborene Brus mehr oder weniger mit seinem Land ausgesöhnt und hat es über die Jahre von der „Uni-Ferkelei“ bis zum Großen Österreichischen Staatspreis für sein Gesamtwerk geschafft. Dieses vielseitige Gesamtwerk steht nun mit zahlreichen Leihgaben aus Berlin, Wien, Klosterneuburg, Salzburg und Graz, wo dem Künstler ein ganzes Bruseum gewidmet ist, im Mittelpunkt der in einzelne Werkphasen unterteilten Ausstellung Günter Brus. Störzonen.

Ich treibe nur in Störzonen [s.o.re.] nannte Brus 1985 eines seiner für ihn typischen mit Farbkreide auf Papier gezeichneten Kopfwesen mit langem, wirbelsäulenartigen Knochengerüst. Hier ist er in der Pose der Körper ganz nah an den dünnen Leibern Egon Schieles, aber auch an den symbolistischen Albtraumwesen des von ihm verehrten Alfred Kubin. Fühlen und Denken, Körper und Geist bilden in Brus‘ Kunst seit jeher eine Einheit. Als „Informel der letzten Stunde“ stieg er schließlich aus der Fläche aus und in das Kunstwerk ein. Sein neues Credo heißt: „Mein Körper ist das Ereignis.“ Brus erweiterte die klassische Leinwand ins Dreidimensionale und malte sich als Künstler mit seinem Körper als „leibhaftiges Bildnis im Rahmen“ mit hinein. „Man muss leben in der Malerei.“ So entstanden 1964 die ersten Selbstbemalungen und Aktionen wie Selbstverstrickung in einer aufgeschlitzten Leinwand - oder Ana gemeinsam mit seiner Frau Anna, die in Skizzen und Fotografien zu sehen sind.

Brus lernte über Otto Mühl den Experimentalfilmer Kurt Kren kennen und ließ sich nun bei seinen Aktionen, die immer extremer wurden und auch vor Selbstverletzungen nicht zurückschreckten, filmen. Kopfüber hängte sich Brus an seine Wohnungstür oder schnitt sich mit Rasierklingen in die Oberschenkel. Die Malutensilien kommen dabei meist direkt aus dem Körper. Man kann diese teilweise tranceartigen Körpererfahrungen in einigen Videofilmen wie Strangulation oder Zerreißprobe gut verfolgen. Aufsehen erregte Brus allerdings dann wieder mit einer eher recht harmlosen Aktion als wandelndes, weiß getünchtes Kunstwerk in der Wiener Innenstadt. Der sogenannte Wiener Spaziergang im Jahr 1965 endet erwartungsgemäß auf dem Polizeirevier.



Günter Brus: Wiener Spaziergang, 5. Juli 1965 Innenstadt, 1010 Wien | © BRUSEUM / Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum; Foto: Ludwig Hoffenreich


Günter Brus: Neuer Schilfgesang, 1983; Kohle, Wachs- u. Ölkreide auf Papier und Leinwand, 158 x 249 cm | © Sammlung Essl; Foto: Archiv des Künstlers


Günter Brus: Ichbildnis, 2005; 50 x 70 cm | © Sammlung Heike Curtze; Fotograf: Max Spilke-Liss


Die Werkphase der Aktionen mit ihren radikalen Auseinandersetzungen mit der physischen Existenz und Selbstanalyse beschloss Günter Brus 1970 und widmete sich dann neben der Malerei auch der literarischen Tätigkeit. Nach einem kurzen, interessanten Rückblick auf die Berliner Exil-Zeit und auf Freundschaftsbilder mit ironischen Hommagen an Künstlerkollegen wie Oswald Wiener, Otto Mühl, Rudolf Schwarzkogler, Dieter Roth und Hermann Nitsch beschäftigt sich die Ausstellung im zweiten Teil ziemlich ausführlich mit den sogenannten Bilddichtungen, in denen sich Brus nach eigener Aussage die Sprache vom Leib wegschreiben wollte. Von seinen rund 900 Bild-Text-Zyklen sind in der Berliner Ausstellung zumindest die wichtigsten zu sehen.

Ein besonderes Schmankerl ist da vor allem der 1970 begonnene Text-Bildband Irrwisch. Die 136 Seiten sind auf einer ganzen Wand Blatt für Blatt zu besichtigen. Die Plastizität der körperlichen Zer- und Verstörungsorgien der 1960er Jahre zieht sich wieder in die zweidimensionale Bildebene zurück. Brus reflektierte mit viel Witz und Selbstironie seine aktionistische Phase, indem er Literatur und bildende Kunst miteinander verbindet. Die Mappe wurde zum Kult in der Berliner Kunstszene und auf der Documenta 5 in Kassel ausgestellt. Der freie Umgang mit Sexualität, sadomasochistische Folterphantasien und Religionskritik zeugen hier immer wieder vom konsequenten Überschreiten gesellschaftlicher Grenzen. In seinen Entwürfen für eine Reihe von Wandbildern für die Villa des Kunstsammlers und Verlegers Francesco Conz im italienischen Asolo malte Brus neun Kardinäle der Unzucht und geißelte so die verlogene Sexualmoral der Katholischen Kirche.

Aber Günter Brus besitzt auch eine ganz romantische Ader. In die Bild-Texten zu Des Knaben Wunderhorn und Friedrich Hölderlin - Der tragische Prozess in Geschichte und Deutung lässt er seine poetisch-träumerischen Anteile fließen. Zu Franz Schrekers Oper Die Gezeichneten entsteht eine 64seitige Bild-Dichtung, die das Libretto in eine symbolische, farbintensive Bildsprache übersetzt. Vorbilder sind hier die romantischen Maler Johann Heinrich Füssli, Carl Frederik Hill und immer wieder der Symbolist Alfred Kubin. Später kommen noch Franzisco de Goya und William Blake hinzu. In der 11teiligen großformatigen Serie Das Inquisit von 1997 rückt sich Brus selbst in die Nähe Goyas. Seine Hommage an den großen, düsteren Zeichner von Himmel und Hölle William Blake, die 162seitige Bild-Dichtung Brus’s and Blake’s Job von 2007/08 beschließt die Schau im letzten Raum.

Eine gelungene Retrospektive des Gattungs- und Disziplingrenzen sprengenden Aktionisten, Zeichners, Malers, Bilddichters und selbsternannten Titelfetischisten, dessen Einfallsreichtum allein schon in den selbstgestalteten Plakaten zu seinen zahllosen Ausstellungen zum Ausdruck kommt. Die Berliner Ausstellung umfasst bei weitem nicht alle Facetten des Multitalents Günter Brus, im Martin Gropius Bau ist aber zumindest ein sehr interessanter Bruchteil davon spannungsreich aufgefächert.


Stefan Bock - 24. März 2016
ID 9215
Weitere Infos siehe auch: http://www.gropiusbau.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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