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nachDRUCK # 4

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Feuilleton



Giuseppe Pellizza da Volpedo, Der Vierte Stand, 1901, Öl auf Leinwand, 293 x 545 cm



Das Bild das fehlt

Arkadien & Anarchie, eine Ausstellung zum Divisionismus im Deutschen Guggenheim noch zu sehen bis 15. April 2007
Text: Gerald Pirner


„Die Schönheit ist kein Ölzweig, sie ist ein Schwert.“ (Hector Zoccoli)
„Wann hört die Schönheit endlich auf uns zu terrorisieren.“ (Jean-Luc Godard)

Einer der rede, sagt sie von wo aus sie stehe, ein Gerüst zu sehen, darauf er, die Faust hoch, unter ihm noch andere aus etwas herausgeballt, das Häuser zu einer Masse zusammenschieben, nach hinten verschwimmt sie, wird von einer Straßenbahn gehalten, dass sie nicht ausläuft, sich nicht verläuft, eine massige Barrikade gegen Soldaten, wenig später würden sie angreifen…

Erster Mai 1890 Bauarbeiterstreik Mailand und der auf dem Gerüst ein Maurer gesehen und gemalt von Emilio Longoni selbst mit unter den Streikenden…

Ein anderes Gemälde, sie tritt heran, die Hand folgt ihr, denkt ungesehen aus, was sie aufnimmt, oder er genauer mit ihrer Hilfe. Krusten scharf zerrissene Farbschalen fleckweise die Haut auf Grund, leiseste Bewegung ein Gewimmel schuppenartigen Schorfs, Gepunkte, Gestrichel, verkarstet obschon wie feucht vielleicht Firnis oder Ablagerung des Malmittels, vielleicht auch nur verfetteter Staub…
Das Dargestellte bringt seine Erstellung nicht zum Verschwinden. Der Grund hier keine sich glatt auslegende Projektionsfläche, nicht unterwirft er sich, nicht duckt er sich unter dem Sujet weg. Vom Malstil als Arbeit ausgewiesen, ihre Spuren in ihm nicht verdeckt, setzt das Werk als Arbeit sich mit dem Dargestellten von Grund auf in Beziehung: Arbeiterinnen in einem Reisfeld und der Titel Für achtzig Cents! benennt solches als Produktionsverhältnis, dessen Kern der Lohnarbeit der Maler selbst unterworfen. Fragen wie, was denn Kunst für den Sozialismus leisten könne,– gestellt etwa von einer anarchistischen Kunstzeitung Ende des 19. Jahrhunderts, beantwortete Angelo Morbellis Gemälde auf eine Weise, die die Frage als sinnlos auswies. Brach sein Malstil doch und dies ganz wörtlich alle Grundlagen bürgerlichen Genusses auf, indem er zu Gestalt kommen ließ, worauf solcher Genuss fußte: Auf Ausbeutung körperlicher Arbeit anderer nämlich, für die es niemals einen gerechten Lohn gäbe.

Ein Hungernder durch eine Fensterscheibe vom üppigen Mahl getrennt, das andere vor seinen Augen verspeisen… Die rote Glut eines Stahlwerks, das alles Leben verdampft, mit dem es mitsamt der Kohle beschickt… Der Tod am Fluss, die Lebenden um sich gesammelt, allen Sinns entkleidete Blöße ums Verrecken… Vergessene Alte an leeren Tische, Räume ohne Tür und das Fenster Aufweis eines Draußen, das es nicht mehr gibt… Und immer wieder Arbeit in ihrer Härte und in Landschaften, denen alles Bukolische abgezogen… Aus der Entfernung Geschehen zu Bildern verrahmt, die Erzählungen als Räume zu sich kommen lassen: Räume des Lebens, der Geschichte, der Kunst, der Gesellschaft. Harte Brüche von Biografien begehbar in drei Abteilungen gefasst: das Licht das sich die Natur zu seiner Vergegenständlichung unterwirft; die Ausbeutung und der Kampf dagegen; die Flucht in eine symbolistische Esoterik…

„Im Hintergrund Gletscher pointillistisch gestrichelt, das siehst du wenn du näher herantrittst.“ „Und Figuren Gegenstände…“ „Mensch Natur und Instrument bilden eine Einheit.“ „Keine präzisen Konturen also.“ „Ja alles geht ineinander über, und die Frau, die übersiehst du zuerst.“ „Ein Teil des Wasser, des Felsens, eine andere Art Gestein?“ „Nicht nur. Ihre Haare werden zu einer Geige und sie spielt darauf.“

Emilio Longoni's Wasserrauschen, derselbe Longoni in dessen Streikredner wenige Jahre zuvor noch kapitalistische Verhältnisse in ausplatzendem Licht auseinander gerissen… Derselbe Longoni, der zuvor von einer befreiten Gesellschaft träumte, im mystizistischen Symbolismus seines Spätwerkes ist von sozialer Wirklichkeit nichts mehr übrig… Harmonischer Reigen ewig wiederkehrender Zyklen in die nichts eingreift, in die keiner mehr eingreifen will oder kann. Auch die Biografien anderer Vertreter des italienschen Divisionismus, die jetzt in einer Werkschau unter dem Titel Arkadien & Anarchie im Museum Deutsche Guggenheim zusammengestellt, nahmen solchen aber nur auf den ersten Blick gebrochen erscheinenden Verlauf.

Arkadien & Anarchie eine Werkschau die Arbeiten von Pellizza da Volpedo, Longoni, Morbelli, Segantini, Previati in Beziehung zu ihren Vorgängern und Vor-Bildern des nachimpressionistischen Pointillismus Seurat, Signac und Pissarro stellt…
Arkadien & Anarchie konservierte Harmlosigkeit einer einstmals avantgardistisch-sozialrevolutionären Praxis Ende des 19. Jahrhunderts, in welcher die Futuristen 10 Jahre später weniger einen Malstil als eine Lebens- und Geisteshaltung sehen sollten…
Arkadien & Anarchie Mythos der Avantgarde nebst konsumierbarem Klassenkampf, wo eine Kapitalinstitution, hier die Deutsche Bank als Ausstellungssponsor, in der Musealisierung von Widerstand, die Negativität von Ästhetik als leergelaufen vorzuführen sucht…
Arkadien & Anarchie bukolischer Friede einer Großbank, die großzügig ausstellen lässt, wovor sie glaubt sich nicht mehr fürchten zu müssen…


Georges Seurat, Die Seinemündung bei Honfleur am Abend, 1886, Öl auf Leinwand, 65,4 x 81,1 cm. Deutsche Guggenheim - Foto (C) Adel


Erst Annäherung: die Zersetzung und das Bildes
In einer Zeit, die mit Daguerre den Realismus zu seiner Selbstvollendung ohne Zutun der menschlichen Hand voranschreiten sah, zertrümmerte ein Malstil allen Bildrealismus und erfand ihn vollkommen neu. Nähe und Ferne kehrten in ihm sich gleichsam um und der Gesichtshabitus des Herantretens wurde sinnlos. Erstmals hieß Kunst, ihr Material und die Methode ihrer Erstellung zur Schau bringend, den Künstler als Vollender eines Werkes sich zurücknehmen, wo solch Werk erst im Auge des Betrachters erstellt. Theoretisch in der Komplementärfarblehre M. E. Chevreul verwurzelt, trugen die Pointillisten ihre Farben ungemischt auf, so dass Dargestelltes, was verkürzt meist als “Bild“ bezeichnet, bewusst als vom Auge des Betrachters zusammengesetzt begriffen. Die Hand eines Blinden einem Seurat nahe gekommen, kein Streifen über in sich verschlossene Konturenlandschaften, die vorgeben ihr eigener Grund zu sein, denn der reißt im Vergleich zu einem Courbet hier auf und das so stark, dass die Haut über ihm in ihrer Gänze zerteilt und die leichteste Bewegung sie auseinander treibt als zerfiele sie unter Grund… Bearbeitetes, Mensch wie Werkzeug vereinheitlicht im gemeinsamen Material, atomistische Konstruktionen, deren All-Selbes verlassen, wenn die vom Bild her spricht, die aufzählt was zu sehen: das Wasser, die Röcke, die Körperteile, die Arbeit und keine Kontur hält der Hand zu Dargestelltem dies auseinander… Spuren taktilen Materials, alle Bildkonstruktion gründend, zugleich Grenze der Nähe wie der Sichtbarkeit aller Gestalt… Zerfall des Dargestellten in Präsenz seiner Darstellung als verhinderten Buchstaben das Erscheinen des Worts, kommt Lesbarkeit doch erst auf wo das Gelesene verschwunden… Ganzes oder Abgeschlossenes im Bild – der Pointillismus führt sie als Künstlichkeit vor, löst sie auf mitsamt ihrem Rahmen, der bei Seurat, behandelt wie gemalte Illusion, selbst noch in gründende Teilchen zerfällt… Dargestellte Weltsicht und Sicht der Darstellung von Welt, im Auge zu zwei Wirklichkeiten geschnitten, ein Bild aber nur, gleichsam Ironie, stellte dessen Konstruktion den Konstrukteur doch selbst mit in Frage… Seurat's Bilder, undurchdringliche Flächen, alles bei sich haltend und Dargestelltes spricht von keiner Welt außerhalb; alle Sicht in sich verschlossen, ganz Monade, das Auge wiederum keine Gültigkeit dahinter duldend, Perspektivismus ohne Perspektive, Realität konstruiert… Nimmt Erzählung im Pointillismus sich als Auf-Zählung von Geschehen zurück, so löst sie der italienische Divisionismus vom Bild wieder ab, weist ihr die Position zu, von der aus sie das ganze 20. Jahrhundert beherrschen sollte: Erzählung, die immer aus der Zukunft kommt, nicht selten als Utopie bezeichnet und dabei doch vorab an einem Ort, der keineswegs, wie das griechische Wort wörtlich übersetzt, ein Nicht-Ort…


Emilio Longoni, Der Streikredner, 1890-1891, Öl auf Leinwand, 193 x 134 cm. Deutsche Guggenheim - Foto (C) Adel


Zweite Annäherung: die Perspektive und der Anarchismus
Präziser Bruch von Wand nicht zu trocken, im nächsten Schritt verhängt gespürt. Kein Stoff freilich, der saugte ja alle Geräusche ab, das hier aber hält sie vor sich wie geschlossen… Beim ersten Hören glatt nach vorne gestuft, wärmer jedoch als das, was es hält. Abgezogene Haut von der das Fell geschabt, grobschartig kurz, dann wieder fein vernarbt, die Spuren aber nie zu lang, innehaltend sie, wie in Furcht ertappt zu werden, Malspuren, die hinter sich horchen ob da einer kommt; im Stocken zu einer Fläche ausgebremst, dicht jedoch und homogen und ausgestrichen… Ein Fleck, Bewegung in ihm wie von unten herausgedrängt, die Fläche unter Vibrieren in Partikel zerrissen, als entledigte der Grund sich seiner Bedeckung, indem er sie zerstäubt. Umschlossen er, der Fleck, von Fläche, nur nach oben hin reißt sie auf, dann aber ganz in der Länge und bis zum Rahmen. Und ob sich dies Geflirr herabsenkt und ob der Fleck da ganz aufreißt und ob das was bröslig und porös ausgeatmet, zerstäubter Grund dessen, was so dick und dicht noch daneben… Die Starre und ihr Aufplatzen, ein Brodeln vor dem sie mit sich selbst verbarrikadiert auch gegen das Oben und dass es herabschwappt und dass es herabläuft und dass es sie überzieht… Aus Festem etwas erbrochen, selbes Material, in Eigenbewegung eroberte Starre, Vorposten des Oben bis es kein Unten mehr gibt, aus dem was ihm zu Grund… Dies Feste aber, eins ist es in der Art, die seine Maltechnik erstellt. Allein die Augen trennen einheitliches Material, scheiden Häuser von Menschen, Fäuste von Körpern und den Körper, der da redet, von denen unter ihm. Eins sind Masse und Dinge, Behausung und Verkehr, eins sind Zustände und Menschen, eins diese Verhältnisse, ein einziger statischer Block Materials, den allein das Gewebe aufreißt, das dem Redner am Leib. Sein Hemd ist der Aufbruch im doppelten Sinne, der Redner nur sein Träger. Pointillistische Maltechnik für das Hemd und den Himmel an denen die Statik der Verhältnisse aufbricht: Das von Menschenhand gefertigte Textil und der Himmel sind eins. Eins damit auch Erarbeitetes und Erlösung, Vergegenständlichtes und Zukunft… Getragen wird das Hemd von einem der vorgeht, der vom Weg spricht, der selbst nur wie ein Prophet nicht der Weg ist, der ihn aber trägt und damit das trägt, was als Oben zu spüren: das Hierarchische, das Bewegung eröffnende politischer Avantgarde, gleichgesetzt hier mit Erlösung.
Von der Kunstgeschichte als im Stil unvollendet bezeichnet, begreift die Hand den Streikredner des organisierten Anarchisten Longoni als politisches Bekenntnis, in welchem die Verachtung der Masse, die Pflege von Politavantgarde und Individualismus genauso zu spüren wie die Krise des Anarchismus und die tiefe religiöse Verwurzeltheit des ganzen Divisionismuses. Massenkämpfe waren die Sache der Anarchisten nicht. Mit tiefer Skepsis beäugte der Urvater des italienischen Anarchismus Errico Malatesta Streiks die, im Alltagskampf verhaftet, von sich aus keine revolutionären Züge trügen. Tief im Sumpf eines Facharbeiterdünkels wurde Mensch als authentische Größe betrachtet, der seine Entfremdung dadurch abstreife, dass er wieder Herr seines im Werk sich vergegenständlichenden Arbeitens werde. Um so angstvoller mussten hochgebildete Anarchisten ihren Zeitungen Nachrichten von einer ganz neuen Figur des Arbeiters entnehmen, die weltweit die Kampfbühne in den hoch entwickelten Kapitalzonen betrat, und die von ihnen, genauso wie vom Kapital als Hilfsarbeiter oder als Ungelernte abgetan und die von Erfüllung des Lebens in Arbeit, oder von Selbstverwirklichung in ihr nichts wussten, nichts wissen wollten und auch von ihren materiellen Bedingungen her nichts wissen konnten. Menschsein an sich war für sie Entfremdung und Leben Verrecken in Arbeit und Arbeit der übelste Fluch, der den Menschen treffen konnte. 1889 traten 90000 dieser so genannten Hilfsarbeiter in den Bergwerken des Deutschen Reiches in den größten Streik den dieses bis dahin erlebt. Aber was noch ein größerer Schock für die organisierten Facharbeiter: Diese Streiks wurden ohne alle Gewerkschaften oder so genannte Arbeitervertreter organisiert und waren von vorn herein um ein Vielfaches radikaler. Auch bei den Bauarbeiterstreiks - um hier zu Longonis Streikredner zurückzukommen, dem ein solcher am 1. Mai 1890 zugrunde liegt - spielten Erdarbeiter, Schlepper, Transportarbeiter, Zureicher und die, die Werkstoffe vorbereiteten die zentrale Rolle. Bemerkenswerterweise stellt Longoni gleichsam als Avantgardisten einen Maurer dar, einen Facharbeiter also von dem die Bewegung ausgehen soll.
Nicht zuletzt drückt Longonis Bild auch die tiefe Spaltung der Arbeiterklasse aus, die im bürgerlich distanzierten Begriff der Sozialkritik recht gut beschrieben. Ein anderes Beispiel hierfür ist Longonis Gedanken eines Hungernden, den auch die Bourgeoise gerne schmachtend vor den Fensterscheiben sähe, hinter denen sie selbst völlert und tafelt, um danach gönnerhaft von Missständen zu sprechen, zu deren Behebung ein Hilfsfond eingerichtet. 1898 aber nach erneuten Brotpreiserhöhungen flogen während des Generalstreiks in Mailand all die Scheiben ein und die Hungernden nahmen sich das, was ihnen eigentlich sowieso gehört. Ironie der Kapitalgeschichte oder Provokation, wenn 100 Jahre später der Geldeintreiber der Großbanken, der IWF so genannten Schuldnerländern Auflagen diktiert, die dort zu Brotpreiserhöhungen führen, auf die die Besitzlosen – etwa in Algerien – mit den so genannten IWF-Riots antworten. Einer der Hauptgläubiger dieser Länder mitverantwortlich für die Auflagenkataloge des IWF ist die Deutsche Bank, in deren Räumen das Guggenheimmuseum gerade Klassenkampf musealisiert.


Angelo Morbelli, Für achtzig Cents!, 1895, Öl auf Leinwand, 69 x 124,5 cm. Deutsche Guggenheim - Foto (C) Adel


Dritte Annäherung: das Außen und der Körper
Porös erbrochene Fläche, aber nicht sie sei es, die da bewegt, so ihre Worte, die Hand auf ihr…
Ein Außen der Sprache entzogen wie das Licht, dem Gegenstände gesammelt, auf dass es bleibt und das heiße Moment… Innen und Außen eins allein in der Hand, unter Aufleuchten Zersetztes, sie birgt es flächenlang, nur das Wort Scheide, verzeichne verstummend fossiler Gewebe Gravuren, verkantet unter Druck fast dicht also lockert sie ihn und sogleich der schwere Farbauftrag vom Grund in Rissigkeit zurückgespannt, als atme er aus vielleicht aber auch ein… Berühren und Berührtsein jetzt dasselbe wo nichts anderes da denn Haut von Hand auf Grund…
Nein die Lichtquelle sei nicht zu sehen. Wie ein Außen rufe sie sich Form und Figur um zur Welt zu kommen. Bild um Bild wiederholt und daraus Zeit gewonnen, dass etwas den Zerfall überdaure, in den ihr Leuchten allen Gegenstand stürzt. Die Hand gleitet weiter: Schorfiges Geflirr über verkrustetem Textil, bildlos alle Gänze verloren auf ein Mal, das der Hand, die außer sich um nichts weiß denn Äußerung zu sein von etwas, das ihr immer zugesprochen werden muss…
Seinen Ursprung als Außen gehalten, verschließen die Bilder des Pointillismus perspektivlos sich in eigener Fläche und keine Erzählung von Geschehen führte über sie hinaus. Rahmenlos abgeschlossen sind sie ohne je ganz zu sein, wiederholt ihr Außen sich doch unablässig indem es andere Gegenstände bei sich versammelt und die Beobachterin schaut ihm dabei zu. Ist der Rahmen aber die Fest-Stellung eines Ausschnitts so löst solch auf einmal allen Rahmen auf, macht ihn über-flüssig - existiert auf der Ebene des Bildes doch kein Weiter. Allein vom Außen her findet es Halt und findet ihn indem dies Außen in seinem Augenblick sich erschöpft, darin zu sich kommend ohne dass seine Gestalt es wieder vertriebe.
Erstellung in Material und Methode beobachtbar öffnet darin sich eine Leere indem das Gemälde im Augenblick ausweglos erfüllt. Mehr war nicht und wird niemals: Im fehlenden Ursprung zugleich alles Werdens und aller Geschichte entzogen…
Im Zerfall des Dargestellten etwas Taktiles, Spuren einer Äußerung, der Berührung ganz ähnlich, weiß auch sie ohne Bild nur selten um das was sie hervorgebracht. Bildlosigkeit im Bild, Verunmöglichung seines Ganzen und wo davon gesprochen redet die Erzählung allein von dem was fehlt und somit von sich.

Im italienischen Divisionismus nun wird dies uneinholbare Außen des Pointillismus einer ausgerichteten Erzählperspektive untergeordnet, als Organisationsprinzip ins Bild selbst zurückgeholt: Da entsteht ein zielverfasster Inhalt, da sprechen Bedeutung und Behauptung sich aus und da zieht das Politische Strukturen hierarchischer Handlungsmöglichkeiten ein – Komponenten und Momente, denen Signacs und Seurats Außen keinen Platz im Bild ließ. An Statt des zersetzenden Außen bleibt der Betrachter, dessen Auge zwar noch immer das Dargestellte zusammensetzt, dessen Denken aber vor allem solche Zusammensetzung in die vor ihm illusionierte Perspektive einzubinden hat. Das Außen wird – wenn auch nicht einlösbare – irdische Verheißung, wie im Altenheim (Morbelli) das divisionisierte Licht, das durch das Fenster kommt; wird ferne Nähe von Schnee (Segantini) auf dem oder vor dessen Hintergrund Arbeit in Übernatürliches eingebunden. War im Pointillismus noch die vermessene In-Eins-Setzung von Außen und Betrachterstandpunkt als Konstituens von Natur intendiert, schienen Wissenschaft und Subjektivität in ihm befähigt, das Paradox dieser Beobachtung, die - zu Ende betrachtet - sich selbst mitsamt dem Betrachter in Frage stellt, als Machtergreifung gegen Mensch und Natur zu überwinden, zog der Divisionismus diese abstrakte Bewegung von Auflösung und Zusammensetzung von Welt ins dialektisch Konkrete, dessen Synthese immer zwischen Richtung und Handlungsaufforderung gelagert. Auflösung und Neuzusammensetzung, die Bewegung in der pointillistisch divisionistische Gemälde “erfasst“, wurden so aber auch zur Metapher des Kapitals, das gerade in dieser Zeit die Arbeitsteilung in der Elektromotorenproduktion um ein Vielfaches differenzierte und in Schlachthöfen die ersten Fließbandsysteme in Gang setzen ließ. Unfreiwillig wird so Angelo Morbelli's Gemälde Für achtzig Cents! zu einer Art Urszene des Kapitalismus.

Hin gestaubtes Gestrichel zu Fasern verwirkt die Hand fasst sie zu Schraffuren, denen Linien entgleiten, und Fährten falscher Konturen sich unterschieben – ein Zittern unter der Hand als schöbe ein Reptil den Panzer unter ihr weg…
„Eine Reihe von Arbeiterinnen im Wasser, gebückt ein Reisfeld aberntend…“ „Die Oberfläche des Bildes ein Befall von Gestrichel und darin ist sie ganz einheitlich aufgelöst.“ „Natur und Frauen gleichermaßen von dieser Struktur durchzogen, auch ihre Spiegelbilder im Wasser vom Körper nur ihre Hinterteile zu sehen und die Röcke darüber.“ „ Und alles spiegelt sich im Wasser?“ „Das Wasser ist präzise pointillistisch aufgearbeitet, die Hinterteile die Röcke die Schatten der Frauen und davor Pflänzchen, Striche in ungemischten Farben.“
Die Hinterteile dem Betrachter hinzustrecken – zu damaliger Zeit eine Provokation – so eine Kunsthistorikerin.
In Demut vor der Arbeit gebeugte Frauenkörper so ein Rezensent und ein anderer will mit dem Blick auf den Titel einen Verweis auf damals bezahlte Hungerlöhne erkennen.
Eine dritte wiederum sieht als einziges Motiv das Farbenspiel von Frauenkörpern, Röcken und Wasserspiegelungen…

Nimmt man aber die Beziehung zwischen Titel und Dargestelltem wörtlich sind - und zu allererst - Frauenhintern für achtzig Cent dargeboten. Im Malstil aufgelöste Gestalten und Figuren korrespondieren so mit der Herauslösung von Körperteilen aus einem Körperganzen zu ihrer je spezifischen Verwertung, der hier eine weitere – als Mehrwert des Mehrwerts gleichsam – hinzugefügt. Nicht so plump freilich wie ein halbes Jahrhundert später De Santi's es in seinem neorealistischen Schinken Bitterer Reis als Sexappeal der Arbeitenden bewerkstelligen sollte, indem er die heimliche Hauptrolle den entblößt im Reisfeld stakenden Schenkeln Silvana Mangano's übertrug. Der “Doppelcharakter der Ware“ Frau bleibt hier verpackt. Umso deutlicher aber der Verweis: Erst das Kapital sucht sich auf Basis von Arbeitsteilung den ganzen menschlichen Körper unterzuordnen, indem es ihn auf Basis seiner Arbeitsorganisation und seiner gesamtgesellschaftlichen Durchdringung so zerteilt, dass ein immer schärferer Blick immer präziser zu fassende Möglichkeiten von dessen Ausbeutung hervorbringt. In solcher Art “Wille zur Macht“ sind Kapitalismus und Pornographie einander ganz nah, ist letztere doch mit Erotik oder Sex nur dürftig umrissen. Vom Aspekt alles sichtbar und hörbar zu machen ist sie die fortgeschrittenste Körper-Praxis solchen “Willens zur Macht“.
Der im Blick aufgelöste Mensch, vom Außen der Ausbeutung wieder zusammengesetzt, in letzter Konsequenz vollstreckt vom Fließband als stählernem Modell des modernen Außen, das sich alles an Bewegung einverleibt, es seinem Rhythmus unterwirft…


Bernardo Bertolucci, Novecento, 1976.


Vierte Annäherung: die Reproduktion und die Masse
Zwischen seinen Fingern Papier dem das Holz nicht ganz ausgetrieben, dahinter das Plakat, eine Ecke abgerissen, schmieriger Film von Staub und Rauch, ein länglicher Fleck als wäre etwas darüber gelaufen. Dann die ersten Töne und er dreht sich um…

Ein bärtiges Gesicht fasst eine Unzahl von Punktpartikeln zu einem Individuum zusammen. Zurückgetreten tauchen andere hinter ihm auf und je weiter das Bild weg geschoben desto mehr von ihnen zu sehen und das alles zersetzende Punktegewimmel verschwindet in der auftauchenden Masse… Eine Zahl in Bildmitte statisch vor dessen Bewegung, als benenne sie sie und finde darin zugleich ihre Erfüllung… weg von Einem zu Vielen hin in die er gefasst. Die Zahl Programm eines Jahrhunderts das bewegte Bild hinter ihr dessen Vollzug. Der divisionistische Wahrnehmungsakt im Vorspann von Bertoluccis 1900 - eine zerpunktete Einzelgestalt aus ihr innewohnender Dialektik zu politischer Wirkmächtigkeit kommend…

Allein seiner Proportionen (2,93 x 5,45 m) wegen hätte Giuseppe Pellizza's da Volpedo Il quarto stato, das dem Film Bertolucci's als Motto unterlegt, in der Guggenheimausstellung nicht gezeigt werden können, ohne gleichzeitig wie eine unermessliche Energie alle anderen Gemälde heillos in sich stürzen zu lassen. Technisch wie programmatisch vollendet sich der Divisionismus im Der Vierten Stand als absolute Negativität syntheseloser Dialektik, die alle Betrachtung wie Handlung in nicht mehr enden könnende Bewegung treibt. Zersetzende Materialität als Nachvorn der Masse, nichts weiter denn sie und ihr Bruch noch dabei, das Ja so laut wie das Nein vor allem zu seiner Überwindung. Im Betrachter bleibt sie nicht stehen, denn der lebt wie alle gelebt haben, die da zu sehen. Dialektik von Form und Zerfall als Klassenkampf. Pellizza untermalt sie mit Fleisch, das er mit einem Gerüst kunstgeschichtlicher Zitate stabilisiert: Lebensgroß dargestellte Bewohner seines Dorfes in Gesten und Konstellationen Leonardoscher Werke aber auch Botticelli's und Raffael's. War die Selbstdarstellung des Außen im Pointillismus als Emanzipation des Auges von Gestalt und Natur ein unwiederbringlicher singulärer Moment - und solcher im Betrachter selbst – so kehrt Pellizza diese Bewegung in gewisser Weise um, indem er die Bewegung des Betrachters der bildimmanenten Bewegung hin zu seiner Gestalt unterwirft und das genau so doppeldeutig wie hier gesagt. Entsprechend verkommt sie, diese Bewegung zur Richtung auf den Betrachter Zuschreitender, dem nichts bleibt als sich mitreißen zu lassen. Eine im wahrsten Sinne überwältigende Metapher des orthodox-marxistischen Basis-Überbau-Schemas: Wo die Diffusion der Materialität erst einmal Klassenform, bleibt Denken und Betrachten nichts übrig als sich so vollzogener Bestimmung unterzuordnen. Im Übergang von Diffusion zu wohlgeordnetem Ganzen wiederholt sie das Auge lediglich, nicht weit mehr entfernt von pathetischen Erlösungsmythen, denn auch Pellizza's Masse, brav geordnet gen Morgen hin, und so gerade die Frontlinie inszeniert, dass eigentlich nichts mehr schief gehen kann, war eher ein Schutzschild gegen die unkontrollierbare reale Masse, die keinesfalls gewillt war sich Avantgarden unterzuordnen, auch nicht denen von Anarchisten, die auf Pellizza's Bild voranschreiten, gestört nur vom “Andern Geschlecht″, das von links her in vorderster Front querschießt.
Und doch tappt solche Interpretation in die Falle, in der gefangen sie das Betrachtete wähnt. Etwas zu erkennen heißt auch Denken einem Urteil zu unterwerfen. Wahrnehmung unhinterfragt leistet Sehen sich um im Für-Wahr-Genommenen vom Außen unbelästigt zu bleiben. Das Außen bei Pellizza aber, durchpulst der Zustand von solchem Gewicht, dass Erkennen zwischen Statik und Zersetztsein nur durch Verrat entschieden. Der aber entzieht allen Boden. Gestalt der Bewegung im Bild der Masse ins massenhaft Partikulare gestürzt, im Schritt nach vorn zu sich gesammelt, das Bild in ihm zugleich sein Zerfall. Verneinung des Alltags und Negation alles Nein – das Paradox eines Zustands richtungsloser Bewegung ohne davor und danach, so abstrakt aber wie permanent und ohne dass eine Erzählung sie je zu einem Ende brächte.

Vielleicht wurde diese alles in Frage stellende Wucht von Il quarto stato erst deutlich als das Gemälde in Plakaten und Zeitungen reproduziert. Zeit seines Lebens hatte Pellizza dies zu verhindern gesucht. In seiner Vervielfältigung wurde das Bild in anderer Weise wirkmächtig, änderte - wie Walter Benjamin es ausdrücken würde - seine politische Funktion. In seiner Vervielfältigung aller präsentischen Bewegung entzogen, stürzte es in den Nimbus historischer Wahrhaftigkeit dabei jeder beliebigen Bezugnahme den Horizont liefernd und alles bezeugend was ihm beigestellt. Das Bild als Emblem von Identität, die Bewegung des Betrachters auf die Maschine übertragen, von der aus vervielfältigt es ihn jetzt eher befällt. Innschriften von Massenerfahrung des Einzelnen wachrufend, versprechen von Wir und Weiter beglaubigt in massenhafter Reproduktion und so zieht das Andere in Plakat und Fotografie als Erreichbarkeit ein, etwas das Pellizza's Außen niemals hatte zu Ruhe kommen lassen, wird endgültig fest-gestellt.
Am 14. Juni 1907 erhängte sich Giuseppe Pellizza da Volpedo in seinem Atelier unmittelbar vor seinem Gemälde Il quarto stato, als ob es nicht mehr zu sagen gegeben hätte als das, was er gemalt.

Er schaltet das Gerät ab, nimmt das Plakat von der Wand und rollt die Zeitungsseite darin ein. Draußen riecht es nach Gas und verbranntem Gummi.


Gerald Pirner - red / 25. März 2007
ID 3093
Divisionismus/Neoimpressionismus
Arkadien und Anarchie

27. Januar bis 15. April 2007

Deutsche Guggenheim
Unter den Linden 13/15
10117 Berlin
http://www.deutsche-guggenheim.de

Weitere Infos siehe auch: http://www.deutsche-bank-kunst.com/guggenheim/d/ausstellungen-arkadienanarchie01.php





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